Vom Rot zum Grün stirbt alles Gelb (Guillaume Apollinaire)

Über den Maler Ralph Wünsche

1.Teil Biographisches

RW war Maler und Zeichner – immer und in – fast jeder Situation. Ich kann mich an nur wenige Momente des gemeinsamen Lebens erinnern, in denen ihn der Zeichenstift, der Pinsel nicht begleitet hätte. Er zeichnete unentwegt – um wie der Pianist, seine Finger gelenkig, locker, leicht beweglich zu erhalten. Das Skizzenbuch, der Stift (meist ein weicher Bleistift, Nr.3 oder 4, denn man durfte das Schaben der Bleistiftmine auf dem Papier während einer Vorstellung, einer Probe im Theater, der Oper oder im Konzert, nicht hören) gehörte zur Grundausstattung, wohin immer er ging. Die Skizzenbücher, von denen nicht mehr alle erhalten sind, manche gingen im Lauf der Jahre verloren, waren sein Tagebuch. Sie enthalten Notizen, Erinnerungen zu Erlebnissen, Museumsbesuchen, Überlegungen beim Betrachten eines Gemäldes, einer Zeichnung u.a. zu Sujet, Technik, Bildkomposition.
Befragt zu seiner Arbeitsweise notierte RW um 1960:
„Ich gehe aus von einem Gegenstand, studiere seine Strukturen, Linien, Bewegungen, Farben und entwerfe eine Skizze, die mir von diesem Moment an als reines Instrument dient. Dann beginne ich zu zeichnen und zu malen: die vorliegenden, gesehenen und fixierten Linien, Bewegungen, Farben und Inhalte vereinen sich mit meinen eigenen Empfindungen, Inhalten des Sehens, meinem eigenen Rhythmus; dies alles setzt sich zu einer Form zusammen, die zugleich von den neuentstehenden Werten gesprengt und als Realität in frage gestellt wird.“
Jedes neue Bild bedeutete umfangreiche Vorarbeiten – ein Ritual. Es begann mit der Auswahl des Formats. Quadratisches Format oder ein Hochformat/Querformat? Nur bei den Porträts war die Entscheidung einfacher, – der gewählte Bildausschnitt und die Haltung des Porträtierten bestimmten das Format.
Meine Präsenz während der Porträtsitzungen war für beide, für den /die Porträtierte/n und RW gleichermaßen wichtig. Schon während der ersten Begegnung mit der zu porträtierenden Person assistierte ich mit meiner Kamera – hielt auf Wunsch von RW unterschiedliche Positionen mit der Kamera fest, dokumentierte. Der Porträtierte/ die Porträtierte sollte nicht mit langen Sitzungen „gequält“ werden; O-Ton RW. „Das Porträt entsteht dann im Atelier, nach den Skizzen, die Photos dienen der Korrektur.“ Meine Aufgabe war (neben der Photographie) das Gespräch, eine lockere Atmosphäre herzustellen, um die Aufmerksamkeit der porträtierten Person von dem allgegenwärtigen Bleistift, von Feder oder Pinsel, die sie auf Papier oder Leinwand festband, abzulenken.
Eine große Ausnahme waren die Sitzungen zu den Porträts der Dirigenten Karl Böhm und Leonard Bernstein. Hier erhielt RW die Erlaubnis im Orchestergraben zu sitzen, zwischen den Musikern, meist am ersten Pult, während der Proben. So konnte er im Rhythmus der Probe ungestört zeichnen, beobachten, zuhören – er verschmolz mit dem Orchester.
Das Rollenporträt des Weltstars, der Sopranistin Leonie Rysanek-Gausmann, entstand unter ganz besonderen Bedingungen. 1976 sang die Rysanek die Medea (Titelpartie der gleichnamigen Oper von Luigi Cherubini) im Théàtre antique in Arles. Das Porträt war ein Auftragswerk; wir reisten nach Arles zu den Proben und zur Premiere der Oper „Medea“. Eine ganz besondere Atmosphäre prägte diese Woche der letzten Proben, zu denen auch die Primadonna frühzeitig angereist war. Die Proben begannen meist zwischen 10h und 11h, doch vom ersten Tag an gab es einen ungebeteten Mitspieler: den Mistral (das ist ein im Rhòne-Tal sehr gefürchteter Fallwind). Bis zur Premiere, sélbst noch am Abend der Premiere bestimmte er den Ablauf. Das führte oft dazu, dass abgebrochen werden musste, weil der Wind im wahrsten Sinn des Wortes – Töne, Noten, Requisiten fortblies. Während dieser zahlreichen Probenunterbrechungen gab es genügend Zeit zu zeichnen, zu beobachten, zu plaudern.
Stunden um Stunden saßen wir im amphitheatralischen Rund des in der Römerzeit erbauten Theaters. RW zeichnete unablässig – die Sängerin, die Sänger, die Kulissen, u.a. mit einem wunderschönen, furchterregenden Drachen aus Pappmaché für Medeas Fahrt in das Reich der Schatten.
Für das Rollenporträt der Rysanek als Medea entwickelte RW eine Dreiphasendarstellung: die Mutter, die ihr Kind wiegt, die rächende Mörderin Medea und die Trauernde, die der Drachenwagen entführt. (Das Rollenporträt befindet sich heute im Österreichischen Theatermuseum, Wien).

Während der probenfreien Zeit gingen wir in und um Arles auf Entdeckungsreisen, suchten nach den Spuren des Malers Vincent van Gogh(1853-1890), der in Arles einige seiner berühmtesten Bilder gemalt hatte und fanden viele Motive seiner Bilder und Zeichnungen (damals 1976!) erstaunlich unberührt wieder. Es war nicht nur eine Porträtreise gewesen, der künstlerische Ertrag war weit umfangreicher – RW nahm einen schier unerschöpflichen Bildvorrat, „Vorrat“ an Licht und Ambiance mit, ein Reservoire von dem er lange Zeit zehrte, das zu weiteren Reisen nach Süd-Frankreich anregte.
Als wir Arles nach der Premiere verließen, war unser Handgepäck um einige Kilo Papier schwerer geworden, RW hatte ununterbrochen gezeichnet, lose Blätter, Skizzenbücher gefüllt – Seite um Seite.
Untergründig blieb aber immer ein Ereignis präsent: Der 13.2.1945, die Apokalypse der Nacht des Bombenangriffs auf Dresden. RW hatte diese Nacht durch Zufall überlebt, – das Erlebte(heute würde man es Trauma nennen) prägte fortan seine Bildsprache; die Motive (die Maske, das Groteske, Tod und Verwesung u.a.), auch dann, wenn ein Motiv heiter und leger zu sein scheint, die Farbigkeit (Rauch -und Feuerfarben), den „züngelnden“ Strich, den er immer leicht ironisch seine „Stacheldrahtkursive“ nannte.
Die beruflichen Vorstellungen des jungen Malers RW galten dem Theater. Er wollte Bühnenbildner werden. Ein Ansuchen (um 1950) um eine Assistenz bei dem damals in der DDR sehr bekannten Bühnenbildner Karl von Appen wurde ohne Begründung abgelehnt. RW wählte einen anderen künstlerischen Weg, den des freien Malers, aber seine künstlerische Fixierung, - ich möchte es Urgebärde nennen-, auf das Theatralische blieb. Wann immer es möglich war, besuchte er Proben. In Berlin, an der Deutschen Oper, bekam RW wieder derart ideale Arbeitsbedingungen wie in Arles während der Medea-Proben, stundenlang zusehen, zuhören zu können. Es war ein besonders glücklicher Zufall, dass er zu den Proben der Ballettkompagnie der Deutschen Oper Zutritt bekam (durch den damaligen Ballettphotographen).
Die zahlreichen Zeichnungen, Blätter auf Ölpapier sind eigentlich Versuchstationen: Raum (die dritte Dimension) und Bewegung in der Fläche mit dem Stift, dem Pinsel, der Farbe so zu gestalten, dass Bewegung zum Raum, zum Licht zum Klang wird. Diese Tanzzeichnungen geben keine konkreten Choreographien wider, keine konkreten Tanzszenen, sondern sind Impressionen des Tänzerischen an sich, auch dann, wenn sie durch den Zwang, Bilder bezeichnen zu müssen, konkret angeben „ Pas de deux“ oder auch einen Tänzer benennen.
Im Atelier von RW stand eine umfangreiche Bibliothek; unter Kollegen galt RW als „doctor pictus“. Bildbände, Monographien über Maler aus allen Epochen, Bände über die Kunsttheorien, Maltechniken waren das Kernstück; einen besonderen Schwerpunkt bildete eine kleine Sammlung über „Art brut“ und „Kunst und Wahn“ (s.u.). Literatur, Philosophie und Schachbücher vervollständigten diese Welt der Bücher.
Die Maltechnik von RW, handwerklich noch erlernt in Dresden an der Hochschule für Bildende Künste (Insider wie RW sprachen dann nur von der Brühlschen Terrasse), in Berlin-Weißensee. Die Maltechnik, die dafür nötigen Malmittel hat er autark nach eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen abgewandelt und weiterentwickelt. Aber: immer orientierte er sich technisch an den alten Maltechniken. Erst in den letzten Jahren, nach 2000 entstanden Farbversuche und Techniken, die von dem bisher Gebrauchten abwichen ohne es in Frage zu stellen.
Er sprach immer von „schwimmenden trüben Medien“, benutzte als Grundierung noch Bleiweiß, mischte dies mit Eigelb, Malmittel, Terpentin; er hatte im Laufe der Jahre in seiner „Giftküche“ eine eigene Mischung entwickelt.
Bleiweiß (heute verboten, weil als giftig definiert), erklärte er mir immer, wäre deswegen so wichtig, weil nur mit Bleiweiß ein bestimmter Farbklang zu erreichen sei, es ließe den Farbauftrag schwimmender erscheinen, und da er mit Vorliebe mit Erd- und Naturfarben arbeitete, kam dieses Bleiweiß (das nicht wirklich weiß war) seiner Intention entgegen, mit vielen kleinen vielfach abgetönten Pinselstrichen (er benutzte fast nur hauchdünne Haarpinsel) Farbe zu gestalten, zum Schwingen und zum Klingen zu bringen, Licht einzufangen .
Es folgt Momentaufnahme zwei – der Alltag. Auftragsarbeiten, viele Ausstellungen, die er als Ausstellungsgestalter im Auftrag für andere erarbeitete; Vorträge für die Erwachsenenbildung der Evangelischen Kirche – an denen auch ich einen umfangreichen und wesentlichen Arbeitsanteil hatte.
Momentaufnahme drei: 1968 erhielt RW erstmals das Stipendium Villa Serpentara in Olevano Romano der Akademie der Künste, Berlin; 1972 ein zweites Mal. Von diesem Moment an war er, wann immer es möglich war, häufiger Gast in Olevano; so sehr hatte ihn dieser geschichtsträchtige Ort „verzaubert“, die Landschaft und nicht zuletzt die Erfahrung „einer anderen Welt“. Er betonte immer wieder, daß „ich bin eigentlich ein Südmensch bin.“ So verwundert es nicht, wenn ein großer Teil seines Werkes Motive aus Olevano oder Rom verarbeitet.
Die Ausstellungen eigener Arbeiten, entweder als Einzelausstellung oder als Teilnehmer an Sammelausstellungen waren nicht auf Berlin beschränkt. Wien war ein wichtiger Ausstellungsort, München und andere deutsche Städte. Eine besondere Ehre allerdings war 1977 die offizielle Einladung zu einer Ausstellung im Kulturpalast in Warschau, Galeria Teatr Studio. Noch war das politische Verhältnis Deutschland –Polen, und speziell die politische Situation Westberlin weit davon entfernt entspannt zu sein, als „normal“
bezeichnet werden zu können. Der kurze Aufenthalt in Warschau wurde zu einem unvergesslichen Erlebnis. Aber: wir wurden so herzlich empfangen, niemand ließ uns die Problematik des Offiziellen spüren – und wir fanden Freunde, u.a. den in Polen sehr populären Schauspieler und Regisseur Aleksandr Bardini (1913-1995), den RW auch porträtiert hat.

Momente der besonderen Art waren die Aufträge, die mit Bühne, mit Theater und Podium zu tun hatten. Ein Bühnenbild für die Jesuitenkirche/Universitätskirche in Wien für eine Kirchenoper (LA FEDE SACRILEGA von J.J. Fux) war eine ganz besondere Herausforderung. Die Kirche, erbaut im 17.Jh., der Kirchenraum dann Anfang des 18.Jh. von Andrea Pozzo in trompe l`oeil Manier ausgestattet, „spielte“ mit. Die Dekoration nahm die trompe l `oeil Manier des Raumes auf und ließ sie „mitspielen“, hatte aber auch die Funktion Spielfläche und Kirchenraum voneinander abzusetzen.
Die Auftragsarbeit für die Münchner Philharmoniker: Für die Programmbücher konzertanter Opernaufführungen Bildmaterial zu zeichnen, das dem Zuhörer die theatralische Dimension nahe bringt ohne „illustrativ“ zu sein.
Momentaufnahme vier: Eines Tages hatte ich die Idee Hauskonzerte als Treffpunkt und als „Salon“ zu organisieren, die Idee eines „Salon“ wieder zu beleben. Die Künste sollten sich im kleinen Kreis möglichst zwanglos begegnen: Musik und Malerei, Literatur. Es sollte ein Forum sein für Künstler, die den Weg an die Öffentlichkeit noch nicht gefunden hatten. RW ging begeistert darauf ein. Wir veranstalteten diese Abende während der letzten Berliner Jahre (1997 – 2000) und in Wien (2001 – 2004) bis zu seinem Tod. Sie waren sehr gefragt, beliebt und immer gut besucht.


INGRID SCHRAMM,  eine Wiener Schriftstellerin und Malerin erinnert sich:

„Künstlersalon Wünsche
Wien-Hietzing, Feldmühlgasse

… Heutzutage leben Künstlerabende im privaten Kreis nur mehr als Legende in Büchern. Und doch blühte im Verborgenen um die Jahrtausendwende ein Salon der besonderen Art wieder auf: Der Salon Wünsche-Saval, geleitet von Dagmar Saval und ihrem Mann, dem Maler Ralph Wünsche. In ihrem großen Wohnzimmer lebte die längst verschollene Tradition wieder auf. Von der Wand, vor der der Flügel stand, blickte der Dirigent Zubin Meta mit humorvollem Blinzeln auf die Besucher herab. …
Als ich Dagmar Saval … kennenlernte, hatte ich gerade meinen ersten Roman „Die Traumspur“ veröffentlicht. Ich beklagte mich bei ihr, dass man als Schriftsteller heutzutage kaum mehr Möglichkeiten habe, sich zu präsentieren. Dagmar Saval sagte mit bitterem, aus eigenen Erfahrungen schöpfendem Lächeln: „Na, dann kommen Sie halt zu uns“ Ich wurde in den kommenden Tagen eingeladen, um bei den Vorbereitungen für einen Literaturabend zu helfen, an dem ich über die Entstehungsgeschichte meines Romans reden und eine heiße Diskussion zum Thema Wiedergeburt entfachen wollte. Die Tür wurde geöffnet und ein mittelgroßer, gedrungener Mann mit einer Menge wirrer weißer Haare stand vor mir. Er führte mich in das große Wohnzimmer, das an dem besagten Abend in einen Salon umgewandelt werden sollte. Mein erster Blick fiel auf die Wand, an der ein Flügel stand. Das Porträt des Dirigent Zubin Meta, - das mich sofort in Bann schlug, … in einem Feuer aus Rottönen …

Ich hielt mich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf, sondern bedrängte Ralph Wünsche, mir mehr von seinen Werken zu zeigen. Er holte eine Mappe aus seinem Arbeitszimmer, blätterte Seite um Seite um und betäubte mich mit einem Rausch von Farben. Ich war nur mäßig beeindruckt. Nach Zubin Meta ließ mich alles kalt. Plötzlich zauberte er ein Ölporträt der Schauspielerin Christine Ostermayer hervor. … Ihr Gesicht verschwamm in Blaugrau-Tönen. Sie selbst trat vollkommen zurück hinter ihren Augen, die einen hypnotisch in ihre innersten Geheimnisse zogen. Man konnte ihr glitzerndes Lachen hören, ihre einzigartige Stimme, hoch und glasklar. Diese Augen waren so lebensecht, dass sie ihr ganzes Inneres preisgaben, Humor, Schalk, Spott, Trauer, maßlose Wut, die gebändigt war durch die Dressur, sich als Dame geben zu müssen. …
Für den Literaturabend „Die Traumspur“ zeichnete Ralph Wünsche ein Porträt von mir, doppeläugig. Er hing es als Plakat an die Eingangstür. Die doppelten Augen passten genial zum Thema Wiedergeburt. …

Nach der Lesung entstand eine lebhafte Diskussion, und Zubin Meta blickte nun ein wenig höhnisch auf uns herab.
Ich habe danach mehrere Musikabende im Salon Wünsche erlebt, an denen Dagmar Saval als Moderatorin mitwirkte. …
Einmal gab es auch einen Abend, an dem Ralph Wünsche seine Bilder ausstellte. Ich stand den ganzen Abend vor dem Porträt von Christine Ostermayer, das er eigentlich nicht aufhängen wollte. Erst als ich ihn eindringlich darum bat, tat er mir den Gefallen, und ich ersoff im Rausch dieses Gemäldes.

HELLA ROST, Berlinerin, langjährige Freundin, Malerin, Stoffkünstlerin, erinnert sich:

Ralph Wünsche – unvergessen – war Mittler und Vermittler de Künste insgesamt – bildende Kunst, Musik, Dichtung, Wort – dieses Miteinander prägte seine künstlerische Arbeit!
Aber nicht nur diese eigene Kunstsicht und Verschmelzung zu einem Ganzen war sein Anliegen und Tun, sondern absolut selten und ungewöhnlich in diesem Maße, war seine Förderung und Anerkennung von Künstlerkollegen – eine großartige Solidarität! Ein Einsatz, den er schon als Student bewies – damals, selbst Student der Hochschule für bildende Künste in West-Berlin(in den 50er, Anfang der 60er Jahre – auch aus dem Osten), half er vielen (neuen) Oststudenten hier im „Westen“ die richtigen „Meldestellen“ zu finden – das vergaß keiner!
Es gab über alle Jahre hinweg, auch über längere Zeiten des Nichtsehens – Begegnungen mit dem Künstler Ralph Wünsche, die mich nachhaltig und immer wieder beeindruckt haben – er bleibt eine unvergessene Persönlichkeit!
Berlin, Juni 2012 Hella Rost, Künstlerin


Jürgen Pieplow, Maler, lebt in Wedel /Norddeutschland 
Erinnerungen einen anderen Ralph Wünsche
In der besonderen Schublade eines Atelierschrankes sind die Adresszettel und Taschenkalender aus vergangenen Jahrzehnten verwahrt. Manche der notierten Namen oder Verabredungen erinnern an prägnante Begegnungen auch an entscheidende Lebensbrüche – andere Notizen sind inhaltlich verweht.
Während der Grund- und Oberschuljahre galt ich in meinem Jahrgang beim Zeichnen- und Kunstunterreich offenbar als bester Schüler, der fortwährend Tagbuchgeschichten mit Zeichnungen herstellte, Wettbewerbe gewann oder Wandzeitungen gestaltete, der sich über Jahre mit der besten Note in Kunstgelobt und bestätigt fühlte. Meine Schulzeit beendete ich nach 12 Jahren mit dem Abitur , der heutige Begriff „Gymnasium“ existierte 1954 für uns nicht. Dieser betraf damals den „unfreien und ausgebeuteten Westen“ Deutschlands, denn wir in Rostock und damit in der DDR gehörten zum „freien und fortschrittlichen“ Teil der Welt, fest verbunden mit der Sowjetunion. Die Mehrzahl von uns Schülern und Lehrern war natürlich nicht blind in der Alltäglichkeit zwischen Schein und Sein.
Nach den permanenten Verweigerungen eines Studienplatzes für Grafik, Illustration oder angewandte Kunst und nach langem Zögern wollte ich mich im Sommer 1956n ach den Chancen für einen Studienplatz an der Hochschule für Bildende Künste (HfBK) in Berlin-Charlottenburg erkundigen, die sich bekanntlich im realen West-Berlin befand.
Schon in den ersten Momenten meiner vorsichtigen Fragen dort im Büro der HfBK wurde ich unterbrochen. Die Mitarbeiterin holte einen Studenten herbei, der vordem schon die DDR verlassen hatte und der sich in den Regularien und diesen speziellen Risiken auskannte.
Der Student Ralph Wünsche, vordem in Dresden, wurde mir vorgestellt und er erklärte mir, wie er mir helfen könne, um das Risiko einer vorstellbaren Fluchtverhinderung durch DDR-Grenzorgane gering zu halten. In meinem Taschenkalender von 1956 befindet sich die damalige Anschrift von Ralph Wünsche: Berlin-Wilmersdorf, Süd-West-Korso 45/IV, bei Semigkeit(?), nicht mehr deutlich erkennbar. Dorthin sollte ich eine Auswahlmappe meiner Bewerbung für die Zulassungsprüfung persönlich bringen. Er bekam auch meine Adresse in Rostock, dorthin wollte Ralph Wünsche dann eine Postkarte schicken mit allgemeinen Grüßen und einer beiläufigen Anmerkung, daß ich an den Geburtstag eines fiktiven Onkel Erich am so und soundsovielten denken solle. Das Datum wäre dann das positive Signal, daß ich zur Aufnahmeprüfung zugelassen sei und dann zum Beginn der Prüfung erwartet würde.
Diese Postkarte kam mit dem fiktiven Geburtstagsdatum versehen: 8. Oktober 1956.
Ich organisierte meinen eventuellen Grenzwechsel, von dem zunächst nur meine Eltern und meine Freundin wußten. Die viertägige Aufnahmeprüfung gelang, ich blieb sogleich in West-Berlin und konnte endlich Student sein.
Für diese entscheidende Hilfe bei dieser Weichenstellung zum weiteren beruflichen Lebensweg bin ich Ralph Wünsche außerordentlich dankbar


Jürgen Pieplow 
Wedel,24.10. 2013  



Zum Werk von Ralph Wünsche


Farben türmen sich, stürzen wie ein Wasserfall aus den Bildern, ziehen den Betrachter wie in einen Trichter in das Bild hinein – und Zeichnungen irritieren mit nervösem rhythmisierten Strichen, lösen Verwirrung aus – und Bewunderung, Begeisterung für die hohe Kunst des Zeichnens, der Farbführung. RW betonte immer: „Ich möchte den Betrachter meiner Bilder dazu bewegen, die Geschichte, die ich ihm mit Farbe, Strich und Pinsel erzähle, auch wenn es kein erkennbares Sujet gibt, selbst erfindet, erzählt.“
Das ist auch für mich, viele Jahre nach seinem Tod, der rote Faden durch sein Werk.
Bei diesem Versuch etwas über ihn und sein Werk zu schreiben gehört der Griff nach DEN Büchern, die seine - und auch meine - theoretischen Bildvorstellungen nachhaltig geprägt haben.
Da waren: „DER Doerner“, das Buch über Malmittel.
Zwei Kultbücher der späten 50er Jahre für alle, die mit und für die Kunst leben wollten: André Malraux, Das imaginäre Museum, 1957 und Gustav René Hocke, Die Welt als Labyrinth, 1957.
In einer späten Begegnung mit Hocke in Italien (1969) konnte er dem Autor selbst seine Bewunderung mitteilen. Die Auseinandersetzung RW mit diesem grundlegenden Werk, mit der damals (in den 50er Jahren) als unorthodox empfunden Sicht auf die Welt/das Phänomen des Manierismus in Kunst und Literatur, weckte in RW die ursächlich vorhandene Lust am Magischen, am Grotesken, am Phantastischen, am „Ab-Wegigen“. Fast bin ich versucht zu sagen, seine Ur-Gebärde zu diesen Phänomenen vertiefte sich noch dadurch – und in Verbindung mit der unleugbaren Neigung zum Klassizismus entstand eine produktive dialektische Spannung, aus der er immer wieder schöpfen konnte. Immer wieder betonte er das Experimentelle an seiner Arbeit, seine farbigen Arbeiten vor allem, seien „Versuchsanordnungen“.
So verwundert es nicht, dass er in seiner Bibliothek auch eine kleine Sammlung wichtiger theoretischer Werke über „Art brut“ (Jean Dubuffet), „Kunst und Wahn“ (Ausstellungskatalog von Werner Hofmann), Hans Prinzhorn, Die Bildnerei der Geisteskranken, 1922, Leo Navratil, Schizophrenie und Kunst, 1965 besaß; die grundlegenden Schriften des Surrealismus von Guillaume Apollinaire und Bildwerke über den Surrealismus.
Aus dem Spannungsfeld „Magisch-Groteskes-Phantastisches“ und „Konkret-Klassizistisches“ entwickelte der Maler RW seine ganz persönliche Form – und Farbensprache aus Abstraktion und Gegenständlichkeit, die sich jeder –ismus-Klassifizierung widersetzt. Der ARIADNEFADEN durch diese verwirrend-bestürzende Welt der Farben und des Ausdrucks ist- „Der theatralische Gestus – Die ganze Welt ist Bühne“ - in seiner subtilsten Ausdrucksform: Rhythmus, Tanz. Rhythmus und Tänzerisches durchziehen alle Werke, gleichgültig welches Sujet, welche Bildkomposition, Papier oder Leinwand, umgesetzt in Farbe und Strich, Versuche mit dem Pinsel, dem Zeichenstift oder mit Fingermalerei Licht , Raum und Musik, auf die Zweidimensionalität der Leinwand oder des Papier/Karton zu bannen.
1991 wurden im Berliner Dom, im DOMizil Tanzzeichnungen ausgestellt.
... es wird auf die Gestimmtheit des Betrachters ankommen, ob er in den ekstatischen, fulminanten Bewegheiten einen Tanz auf dem Vulkan sieht oder nicht. …Da vermag man wohl tanzende Gestalten auszumachen, da taucht ganz deutlich ein Gesicht, eine Hand oder ein Bein auf, aber ob das immer ein und dieselbe Figur ist … Die nervösen Pinselschwünge der Kreide- und Bleistiftlinien sind so vernetzt und verstrickt miteinander, dass manches Blatt wie ein einziger Wirbel, ja wie ein Sturm daherkommt. …Es ist als höre man die Klänge des Orchesters und ahne den brausenden Beifall …
Zit.: Sabine Sülflohn, Verschwenderische Fülle zauberhafter Details. Werke von Ralph Wünsche in der Galerie „DOMizil“
Neue Zeit, Berlin, 18.2.1991

Zu der ununterbrochenen Auseinandersetzung mit dem „theatrum mundi“ gehörten auch die Auftragsarbeiten für verschiedene Programmbücher, erst in Berlin für das Orchester der Berliner Symphoniker (heute Deutsches Symphonieorchester), später für die Münchner Philharmoniker.
Für das Programmbuch „Die schwarze Maske“ von K. Penderecki verfasste RW folgenden Text, den man als Credo seiner Intentionen lesen kann:
… Die Aquarelle und Zeichnungen … sollen dem Zuhörer, der diese Oper noch nie auf der Bühne gesehen hat, die theatralische Dimension nahe bringen. … Das bildnerische Umsetzen des Grundmotivs durfte keine Illustration des gesungenen und gesprochenen Wortes sein, sondern eine Kette von assoziativen Bildern, die sowohl dem Duktus der Musik wie auch dem der theatralischen Gebärde folgt. … Meine assoziativen Bilder verknüpfen die unsichtbaren wie sichtbaren Fäden vom Bild zu Wort und Ton – sie gehen den Weg von einer Kunst zur anderen.
zit.: Ralph Wünsche, Konzertprogramm der Münchner Philharmoniker für die Oper „Die Schwarzen Maske“( Kzrysztof Penderecki) München 14. – 18. November 1997, S. 66/67

Selbst der Kunstkritik blieb nicht verborgen, dass der Maler Ralph Wünsche sich intensiv mit Fragen und Problemen der Kunstgeschichte ebenso auseinandergesetzt hat wie mit Philosophie. Anlässlich einer Ausstellung in der Galerie Ruf, während der OPEN ART 97 schreibt die Münchner Abendzeitung:
… Ralph Wünsche gilt als Maler und Zeichner von großer Gelehrsamkeit. Gleichzeitig sind seine Werke von überschäumender Vitalität geprägt. Die Figuren sprühen vor Bewegung, festgehalten in einem Augenblick, aus dem sie jeden Moment heraustanzen könnten. Oder sie laden den Menschen vor dem Bild ein, hereinzukommen, sich von dem Zauber der Szene mit einfangen zu lassen. Und portraitierte Persönlichkeiten scheinen aus der Leinwand heraus mit dem Betrachter sprechen zu wollen ….
Zit. : A(bend)Zeitung, München, 11.11.1997
Ausstellung „Ralph Wünsche: Bilder und Aquarelle“, anlässlich der Open Art 97 München, Galerie Ruf, München-Gasteig