"Mit meinen Flügeln " ... Ludwig Bösendorfer zum 100. Todestag 2019

Aus Dagmar Saval Wünsche

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„Wie oft, wenn Deine schlanken Finger springen …“

Das Klavier. Pandämonium-  Lustobjekt – Möbelstück – Ärgernis ?



Wie oft, wenn Deine schlanken Finger springen
Über das Holz, beglückt durch ihr Berühren,
Daß wunderbare Weisen ihm entklingen,
Die wohllautvoll mein Ohr und Herz verführen,
Beneid ich diese Tasten, wie sie nippen
Glückseligkeit, von Deiner Hand gespendet,
Derweil errötend meine armen Lippen
I h r Anrecht sehn an kühnes Holz verschwendet.
Gern würden sie um solche Wonne tauschen
Mit jeder Taste, die sich tanzend bückt:
Wenn lieber Deiner Hand melodisch Rauschen
Das tote Holz als meinen Mund beglückt.
Doch wenn das freche Holz geküßt sein muß;
Reich ihm die Hand, die Lippe m i r  zum Kuß! 1)
 
 
Wer war wohl die zauberhafte Schöne, die William Shakespeare so genußvoll beim Spielen beobachtet, den zarten Klängen des Virginals 2) hingegeben lauscht ?. In diesem Sonett versucht er seine Empfindungen, Sehnsüchte  einzufangen, sie auszusprechen,  in der Hoffnung für die Mühe des Zuhörens wenigstens eine Kuss als Lohn zu erhaschen?  – Wer Shakepeares Dichtungen liebt und kennt, weiß, daß Musik ein unverwechselbarer , gestalterischer Teil seines Werkes ist. Doch ich frage mich, hat er  Musik geliebt,  oder war es allein der Theaterpraktiker, der Bühnenmensch,  der wußte – ohne Musik geht’s nun mal nicht. Wenn er süchtig war nach Musik, drückt das Sonett seine magische Faszination aus oder liegt hier nicht vielleicht ein Fall von produktiver Verwechslung  vor mit seinem Objekt der Begierde, der Spielerin,? – Wie auch immer, klinisch nüchtern seziert: Ein erster Fall von Tastenseuche.

Das arpicembalo che fà il piano e forte von Bartolomeo Cristofori 3) löst fast ein Erdbeben in der Spielmanier und Spielkultur aus, animiert die Komponisten neue Wege der  musikalischen Erfindung zu suchen, zu gehen. Töne spielen nun untereinander zwischen leise- piano und forte – laut in allen Abstufungen, Herausforderung auch für den Instrumentenmacher nach mehr technischen Möglichkeiten einer Verbesserung der Tongebung, der Spielmöglichkeiten zu suchen, sie anzubieten. Instrumentenbauer und Musiker spielen sich die Tasten-Bälle zu.

Ein Jahrhundert später. Ich blättere in einer Anthologie  von Gedichten aus dem 18.Jahrhundert. Da fällt mein Blick auf ein Gedicht: „An Laura“ von Friedrich Schiller 4)









AN LAURA
Wenn dein Finger durch die Saiten meistert –
Laura, itzt zur Statue entgeistert,
Zauberin! Mit Tönen, wie
Mich mit Blicken, zwingst du sie.
 
Seelenvolle Harmonien wimmeln,
ein wollüstig Ungetüm,
Aus den Saiten, wie aus ihren Himmeln
Neugeborne Seraphim;
 
Wie, des Chaos Riesenarm entronnen,
Aufgejagt vom Schöpfungssturm, die Sonnen
Funkelnd fuhren aus der Nacht,
Strömt der Töne Zaubermacht.
 


Friedrich Schiller dichtet in vielen Strophen ein klavierspielendes Mädchen, vielleicht auch eine klavierspielende Dame an, setzt ihr ein liebendes Denkmal mit nicht nur einem Gedicht. Wer diese angebetete Laura war, wir wissen über sie genau so wenig wie über die bewunderte Schöne in  Shakespeares Sonett. Beide Gedichte erzählen von der Faszination die Klavierspielen auf den Hörer wie den Spieler gleichermaßen ausübt.
Die Gedichte „An Laura“, entstanden vor dem Erstlingswerk „Die Räuber“5), die 1782 in Mannheim uraufgeführt wurden; 1782 ein Schicksalsjahr in Schillers Leben. Der junge Dichter und sein Freund, der Musikus Johann Andreas Streicher 6) wollten unbedingt bei der Uraufführung anwesend sein, gegen das ausdrückliche Verbot des Herzogs von Württemberg, ihres Souverän. Sie reisten heimlich nach Mannheim, aber nichts ist so geheim, daß es nicht doch ans Licht kommt, und diese Insubordination blieb nicht folgenlos. Vor der drohenden Festungshaft und anderen peinlichen Bestrafungen flohen die  beiden aus Stuttgart nach Mannheim.  Hier trennten sich ihre Wege: Schiller verschlägt es nach Weimar, Johann Andreas Streicher zieht auf dem Umweg über Augsburg, wo er heiratet, nach Wien.
Wien ist um diese Zeit das Zentrum des Klavierbaus;  nach und nach werden mehr als 200   Klaviermanufakturen in der Residenzstadt des Habsburgerreiches ihre hochwertigen Produkte anbieten. Die Manufaktur Johann Andreas Streicher/ Nanette Stein war um 1800 eine der wichtigsten Manufakturen. Besonders bemerkenswert für diese Zeit: nicht ein Mann leitete die Manufaktur und baute die Instrumente, sondern es war eine Frau, Nanette Streicher, Komponistin und Pianistin. Ihr Mann, Johann Andreas Streicher, der Freund von Friedrich Schiller, war ihr Associé, auch er Komponist und Pianist. Es konnte nicht ausbleiben, schon wegen der hochwertigen Instrumente, die beide fertigten, daß sie die Aufmerksamkeit von Ludwig van Beethoven auf sich zogen, und in seinen letzten Lebensjahren zu seinem engsten Kreis gehörten.
Um 1800 ist das Klavier ist immer noch ein Instrument des Salons, der Aristokratie, doch die ersten Anzeichen der Veränderung seines gesellschaftlichen Stellenwerts  und Nutzwerts zeichnen sich ab, nehmen zu. Zunächst einmal läßt es sich scheinbar ganz harmlos an, immer mehr Frauen und Mädchen sitzen stundenlang hinter dem Instrument und spielen, singen … Doch dahinter steckt mehr. Aus Spielen wird Dressur. Die Begründung für diese unsägliche Klavierdressur der Frauen und Mädchen ist vielschichtig: Rigide Sittlichkeitsregeln für Mädchen und Frauen greifen in alle ihre Lebensbereiche ein, und dazu gehört auch das Musizieren. Klavierspielen ist erlaubt, denn die Haltung an dem Instrument entspricht den männlichen Visionen von Sittlichkeit für ihr Eigentum, sei es nun die Tochter, die Ehefrau oder sonst eine weibliche Verwandte. Am Klavier sitzt man mit geschlossenen Beinen, den Rock züchtig über die Füße gelegt. Ein anderes Instrument, wie etwa die Geige oder das Violoncello, kam schon wegen der dafür nötigen Körperhaltung erst gar nicht in die engere Auswahl. Also sperrte man die Mädchen vor dem Klavier förmlich ein, wie in „Einzelhaft“ (Grete Wehmeyer).
Zunächst einmal wurde dies so begründet: Wenn sie das Instrument traktierten, kamen sie wenigstens nicht auf „dumme“ Gedanken, vergeudeten nicht ihre Zeit, sondern nutzten sie – immer aus der Sicht des „pater familias“ sinnvoll. Klavierspielende weibliche Familienmitglieder  waren zudem „leichter unter die Haube“ zu bringen.
Lernen für einen Beruf, eine Ausbildung durchlaufen, in dem von uns heute verstandenen Sinn des Wortes, war ihnen versagt; eine Frau, die mehr wußte, als es gesellschaftlich üblich war  – Motto: Küche, Kind und Kirche,  galt als Blaustrumpf, als nicht gesellschaftsfähig – war als Ehefrau, als Mutter der Kinder, vor allem des Stammhalters völlig ungeeignet. Die männlich dominierte Gesellschaft bestimmte es so, und wehe dem armen Mädchen, das ausbrechen wollte! Tat sie es dennoch, weil sie z.B. einen künstlerischen Beruf ergreifen wollte, dann war ihr die gesellschaftliche Ausgrenzung sicher. Die wenigen Frauen, die es trotzdem zu Ruhm und Anerkennung gebracht hatten, bezahlten in der Regel einen sehr hohen Preis.
Der Durchschnitt, Lieschen Müller, mußte als „Heiratsgut“ sticken, häkeln, stricken,  kochen lernen – und Klavier spielen. Das galt als weibliche Tugend, war gleichzusetzen mit der materiellen Mitgift.
Die  daraus entstehende „Klavierseuche“ ging auch auf das Konto ehrgeiziger Mütter, die nichts unversucht ließen um die Tochter möglichst rasch an den „Mann zu bringen“, unter die Haube, sie versorgt zu wissen. Eine junge Frau im 19.Jh., die mit zwanzig noch nicht verheiratet war, galt als unanbringbar mit grausamen Folgen.  Sie wurde als „alte Jungfer“ eingestuft, mußte sich den Lebensunterhalt mühsam verdienen, oft gesellschaftlich heruntergestuft, geduldet als klavierspielende arme Verwandte, als Gouvernante oder als Klavierlehrerin, immer bedroht sich auf der Straße wiederzufinden.
Das Klavier  wurde zum Prestigeobjekt, zum Vorzeigemöbel des gehobenen Bürgerstandes, zeigte, daß man es „zu etwas gebracht hatte“. Diese unselige Allianz dauerte bis weit in das 20.Jahrhundert.
Für die Klavierbauer brachen goldene Zeiten an, sie machten damit gute Geschäfte; in jedem bürgerlichen Haushalt mußte ab sofort ein Möbel namens Klavier stehen.
Das Instrument zur „Verführung“ potentieller Heiratskandidaten mußte natürlich ein Bösendorfer sein! Noch 1905 konnte ein Rezensent 7) zu Bösendorfers 70. Geburtstag und dem 50-jährigen Firmenjubiläum frisch und fröhlich reimen:



                                           LUDWIG BÖSENDORFER ALS EHRENRETTER DES KLAVIERS

 


Über weiße Tasten   gleitet
Eine weiche Frauenhand,
In ihr glanzerfülltes Auge
Blickt ein Jüngling unverwandt.
 
Und sie gießen in das Tonmeer
Liebestrunkenen Choral,
Dabei treten ihre Füße
Hübsch gemeinsam das Pedal.
 
Nebenan spielt Liszt, Beethoven
Ein gepriesner Virtuos,
Sieht das Kleine nur im Großen,
Und sieht sich den Kleinen groß.
 
Eine höhre Tochter martert
Mitleidslos das Instrument,
Ihre Mutter meint dann selig:
„Nicht wahr, Elsa hat Talent!“
 
Bei der neuzeitigen Folter
Mich nur eines nicht verdrießt
Daß vom alten Bösendorfer
Das Klavier gezimmert ist.
 
Meine ramponierten Nerven
Wärn zersägt, zerfressen schon
Hätte nicht der „Bösendorfer“
Seinen wundervollen Ton.
 
Deshalb ist zu seinem Preise
Höchstes Lob erst groß genug,
Denn sein „Flügel“ hat geschaffen
Des Klavieres „Höhenflug“.2)
 

                                           DA HÖRE ICH BUSONI PROTESTIEREND AUSRUFEN:


              Man achte das Pianoforte !
              Seine Nachteile sind offenbar, stark und unwiderruflich. Das Nicht-Halten des Tones,        und die unbarmherzige , harte Einteilung in unalterable Halbtöne. Aber seine Vorzüge              und Vorrechte sind kleine Wunder.
              Ein einzelner Mensch kann hier etwas Vollständiges beherrschen; die Möglichkeit vom          Leisesten und Lautesten in einem einzigen Register übertrifft alle anderen              Instrumente.
              … Das Klavier verfügt über die höchsten und die tiefsten anwendbaren Töne. Man        achte das Klavier.
              Der Zweifler bedenke, wie ein Bach, ein Mozart, ein Beethoven, ein Liszt das Klavier            achteten, ihm ihre kostbarsten Gedanken widmeten.
              Und das Klavier besitzt etwas, das ihm ganz allein eigen ist, ein unnachahmliches         Mittel, eine Photographie des Himmels, eine Strahl des Mondlichtes: das Pedal. Die   Wirkungen des Pedals sind noch unerschöpft, weil sie noch immer die Knechte einer            engherzigen und unvernünftigen harmonischen Theorie geblieben sind: man geht       damit um, als ob man Luft oder Wasser in geometrische Formen bringen wollte. –        Beethoven, der unbestreitbar den größten Fortschritt im Klavier vollführte, ahnte die               Natur des Pedals und ihm verdanken wir die ersten Freiheiten.- Das Pedal ist verrufen.        Sinnlose Ungesetzlichkeiten sind daran Schuld. Man versuche es mit sinnreichen
              Ungesetzlichkeiten. … 8)
Als Ferruccio Busoni diesen Text schrieb, da hatte er dreißig Jahre lang „Bösendorfer“ gespielt; mit seinem „Claviermacher Ludwig Bösendorfer“ verband ihn mehr als nur eine Geschäftsbeziehung.
Ich blicke zurück in das Jahr 1876, 8. Februar: Auf dem Podium des Bösendorfersaals sitzt vor dem Flügel ein Junge in Samtanzug und weißem Kragen. Er spielt mit Verve und Emphase, reißt die Zuhörer zu begeistertem Applaus. Es ist  der knapp 10-jährige Busoni, der als Pianist, er spielt ein Rondo von W.A. Mozart und als Komponist sowie fünf eigene Kompositionen, sein Debüt gibt. Er tritt in diesem Konzert als Konzertgeber auf, so der Programmzettel, ein für die damalige Zeit übliches Procedere.
Er schreibt an Céleste und Ludwig Bösendorfer:

Triest, 18. Februar 1876

              Gnädige Frau! Und Herr Ritter von Bösendorfer, Vor meiner Abreise habe ich die Ehre          gehabt den Herr Ritter und Frau Gemahlin zuhause zu treffen. Ich mache mich so frei             Ihnen zu schreiben um meine Dankbarkeit Ihnen zu zeigen für die Güte, daß der Herr        Ritter und die Gnädige Frau für mich gehabt haben.Mein Vater und meine Mutter               lassen Sie empfehlen, und ich verbleibe der Ihnen gnädige Frau und Herr Ritter        gehorsamer Diener Ferruccio Benvenuto Busoni  9)


Ich blättere weiter in den Briefen zwischen Busoni und Ludwig Bösendorfer; meistens geht es um Klavierleihe, um den Transport zu einem Konzert –in Zeiten, in denen es nur die Post als Kommunikationsmittel gab - denn bei der Post geht’s nicht so schnell - bedeutete jeder Klaviertransport eine logistische Meisterleistung!.
Dann, endlich, finde ich das Credo des Claviermachers Bösendorfer, er schreibt an Ferruccio Busoni, am 16.März 1906
              Hochverehrter Meister, Ihr so überaus liebenswürdiger Brief hat mir größte Freude               gemacht. Eine so wohlwollende Äußerung und mich schonende Anordnung vonseiten        eines so großen Künstlers dem die ganze musikalische Welt Verehrung und      Bewunderung zujubelt, würde mich stolz machen können, wenn nicht der Gedanke    bei mir feststünde, daß der Claviermacher fortgesetzt verbessern muß um dem             vorausgeeilten Künstler dienen zu können. Die großen Pianisten habe ich stets als               meine Lehrmeister betrachtet.
              Mit Dankschuld im Herzen begrüße ich Sie in Hochachtung und Vertrauen, Ihr treu       ergebener Bösendorfer 10)
Ein unumstößliches Credo von Ludwig Bösendorfer: „… das Klavier darf nicht gequält werden …!“ Für Ludwig Bösendorfer ist das Instrument, das Klavier, kein Objekt, es ist Subjekt. Als solches muß es entsprechend behandelt, gepflegt, gespielt werden.
Nichts konnte ihn mehr irritieren, als ein Instrumentalist, der das Klavier rein technisch behandelte,  mechanisch spielte … und da er auch in der Prüfungskommission des Konservatoriums saß, erlebte er so manches pianistisches Sacrilegium. Was ihm aber besonders gegen den Strich ging, wenn bei Piano oder Pianissimo der Pianist die Verschiebung, das sostenuto-Pedal, einsetzte anstatt tatsächlich piano- pianissimo zu spielen. Das kam seiner Meinung nach einer Mißhandlung des Instruments gleich.
Und dann die jungen Pianisten! unerfahren, von Ängsten aller Art geplagt, besonders von der Prüfungsangst, die waren im „Mißhandeln“ des Instruments besonders erfinderisch.
Eine Episode, die diesen empfindsamen Umgang mit dem Instrument schildert, habe ich im „Fremdenblatt“ vom 11.April 1915 gefunden, der Anlaß des Berichts war der 80. Geburtstags des Claviermachers Bösendorfer; ich skizziere nach:
Prüfungstag der Clavierklasse, Ludwig Bösendorfer ist Mitglied der Jury.
Ein Kandidat nach dem anderen absolviert seinen Auftritt, viel Schweiß, viel Nerven. Doch dann muß einer auf das Podium, der vor lauter Angst ganz schweißnasse Finger, Hände hat. Nachdem er seinen Part beendet hat, zeigte die Tastatur sehr sichtbare Spuren dieser nassen Finger. Natürlich muß die Tastatur für den nächsten Prüfling in ihren ursprünglichen – trockenen Zustand zurückversetzt werden. Auf nassen Tasten tanzen keine Finger! Dem Saaldiener wird der Auftrag erteilt, die Tasten trocken zu wischen.
Der  Saaldiener kommt, wischt mit einem Tuch über die Tasten, geht. Da springt Ludwig Bösendorfer auf, geht mit energischen Schritten zum Klavier, zieht aus seiner Hosentasche ein weiches, weißes Tuch … und fängt an: …  Jede einzelne Taste, ob schwarz oder weiß, wird liebevoll, sanft und behutsam in voller Länge behandelt, so lange bis sie tatsächlich trocken ist. 88 Tasten lang! Danach zieht sich Ludwig Bösendorfer, beruhigt und zufrieden, wieder auf seinen Juryplatz zurück: Das Klavier darf nicht gequält werden.
Nun steht, zur Massenware geworden, das einstmals aristokratische Instrument in den bürgerlichen Wohnungen und dort muß es sich seither allerlei gefallen lassen; das reicht von der  Ablage für Mäntel, Bücher, Blumen, Wassergläser, bis zu …-  die Liste ist beliebig zu erweitern. Es dient  als „Zimmerzier“, wie „Fipps der Affe“ von Wilhelm Busch 11) meint: 


Mit Recht erscheint uns das Klavier,
Wenn’s schön poliert, als Zimmerzier.
Ob’s außerdem Genuß verschafft,
Bleibt hin und wieder zweifelhaft.
 
Das Klavier - es ist und bleibt DAS magische Kultobjekt, es entfaltet jenes Pandämonium,  das nicht nur große Pianisten bis heute heraufbeschwören; wann immer jemand es zum Klingen bringt, gerät Jedermann in seinen Bann.
Der Pianist, der Komponist, ein jeder von ihnen ein Zauberlehrling (Goethe) braucht den Meister, und das ist der Klavierbauer. Er baut dem Zauberlehrling das Handwerkszeug, ganz nach seinen, des Zauberlehrlings, Vorstellungen entsteht „sein magisches Instrument“. Einer dieser großen Baumeister war der „Claviermacher“ Ludwig Bösendorfer.
In der großen Fabrikshalle steht Flügel an Flügel, vom „Mignon“ bis zum „Riesenflügel“, vom „Rubinsteinflügel“ bis zum „Imperial“; die Farbpalette reicht von Braun, Mahagoni, Elfenbein, Weiß bis – alle und alles dominierend - Schwarz  - glänzend oder matt - lackiert. Ludwig Bösendorfer geht von Flügel zu Flügel, in Gedanken läßt er die Wünsche der Künstler, der Freunde, an seine Instrumente, in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, Revue passieren. Moritz Rosenthal, sein ehemaliges Mündel, jetzt ein gefeierter Virtuose, wollte immer schwergängige „Stutz“(flügel) zum Üben, um sein „jeu perlé“ weiter zu perfektionieren. Franz Liszt forderte am 3.Mai1884 das „Piano-forte Octavier“ an für das Tonkünstler - Treffen des ADMV( Allgemeiner Deutscher Musik Verein), das vom 23. -28.Mai in Weimar stattfinden sollte.
Eine adelige Dame möchte einen Flügel mit besonders dekorativen Füßen ähnlich den Füßen des Kaiserin Elisabeth-Klavier von 1867; Alice Barbi, Sängerin, Pianistin, nunmehr Baronin Wolff-Stomersee, bestellt einen Flügel, der nach  Vilna, ihrem derzeitigen Wohnsitz geschickt werden soll, usw. usw. Überhaupt: die Transporte bedeuten trotz der inzwischen allgemein üblichen Eisenbahn noch immer eine große logistische Herausforderung um pünktlich an ihrem Bestimmungsort einzutreffen. Inzwischen sind die Techniker gekommen; es wird reguliert, intoniert, gestimmt. Bösendorfer setzt sich immer wieder an ein Instrument, spielt, stellt fest: Die Tondauer ist zu kurz. Er winkt dem Techniker – schnalzt mit den Fingern – und der weiß, was er zu tun hat. In einigen Fällen ringt sich der wortkarge Meister zu dem Kommentar durch: „Der Diskant muß pfeifen! “, denn nur so erreicht man die allerhöchste Brillanz.
              „Plötzlich eines Tages, schien es mir klar geworden: daß die Entfaltung der Tonkunst           an unseren Musikinstrumenten scheitert. Die Entfaltung des Komponisten an dem Studium der Partituren. Wenn „Schaffen“, wie ich es definierte, ein „Formen aus dem         Nichts“ bedeutet soll, (und es kann nichts anderes bedeuten); wenn Musik … zur               Originalität nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll, … wenn sie            Konventionen und Formeln wie ein verbrauchtes Gewand ablegen und in schöner          Nacktheit prangen soll; diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zunächst          im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang. Ihre Klangart und ihre               Ausführungsmöglichkeiten festgekettet …abstrakten Klänge, zur hindernislosen               Technik, zur tonlichen Unbegrenztheit. … 12)
Ferruccio Busonis  Gedanken und Forderungen auf der Suche nach dem idealen Instrument, formuliert 1907 in seinem ersten „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“, lesen sich abgelöst von den technischen Bedingungen der Klavierbaukunst wie eine idealtypische Vorstellung dessen, das Ludwig Bösendorfer formuliert mit “Der Diskant muß pfeiffen“.
Der Claviermacher Ludwig Bösendorfer, in ständigem schöpferischen Dialog mit den Künstlern, die seine Instrumente spielten, versuchte ihren musikalischen Visionen die instrumentalen Möglichkeiten zu schaffen.
Der Name „Bösendorfer“ steht heute nur noch für ein Instrument, eine Klavierproduktions-firma, für Instrumente mit einem ganz eigenständigen, besonderen Klang, „dem Bösendorfer-Klang“. „Der Bösendorfer“, Ludwig Bösendorfer, wird in der entsprechenden Fachliteratur, in biographischen Werken, in sogenannten „table-books“ präsentiert, geschildert, geehrt, aber nach der Lektüre dieser Texte verdichtete sich – bei mir - die Frage: Wer war er, dieser Ludwig Bösendorfer? Was war das Movens, das ihn die Instrumente wie Kunstwerke zu kreiieren antrieb, mit einem Klang so verzaubernd , intensiv, daß man ihn nie wieder aus dem Ohr, dem Gefühl bekommt, sich unentwegt auf die Suche nach diesem Klang macht.
Für diese Klang-Idee scheute er auch nicht vor Konflikten zurück; die Auseinandersetzungen mit der Konkurrenz, nicht zuletzt auch um die Vorherrschaft auf dem heiß umkämpften Markt. Aus dem Wiener Musikleben seiner Zeit war er nicht wegzudenken,  er spielte eine wichtige Rolle, nahm Einfluß, war Mäzen – und präsidierte, organisierte seinen Konzertsaal,  vier Jahrzehnte lang, den Bösendorfersaal, Wiens wichtigsten Kammermusiksaal, in der Herrengasse 6, Wien - Innere Stadt.  
Als er 1835 geboren wurde, machte die alles beherrschende Zensur des Restaurationsstaates des Kanzler Metternich 13) aus Staatsbürgern mundtote Schattenwesen. Nach der Revolution von 1848 verwandelte sich das scheinbar gemütlich- biedermeierliche Wien rasant eine Großstadt, alles stand im Zeichen der industriellen Fortschrittsgläubigkeit.
Als Ludwig Bösendorfer im Mai 1919 starb, war diese Welt, seine Welt, brutal und gewaltsam zerstört worden, eine ganze Kultur untergegangen – der Erste Weltkrieg zerbrach nicht nur Staaten, er zerbrach vor allem Menschen. 
Dieser „Vogelflug“ über und quer durch die Ereignisse zwischen 1835 – 1919 gibt die Lebensfolie, die Kulisse, vor der und in der das Leben des Menschen und  Geschäftsmanns Ludwig Bösendorfer spielt, des „Claviermachers“, wie er sich selbst nannte.
Ich möchte mit meiner Zeitreise, aus dem Wissen heraus, daß ich zum Zeitpunkt des Erzählens schon das Ende kenne, den Menschen Ludwig Bösendorfer aus dieser lexikalischen, erzwungenen Zweidimensionalität befreien und ihm wenigstens ansatzweise ein gelebtes Leben mit allen Höhen und Tiefen geben.
Die Geschichte der Firma, die seinen Namen trägt, spielt mit, aber nicht als Hauptrolle; so lange Ludwig Bösendorfer lebte, ist Bösendorfer synonym für Bösendorfer -Klavier.
Meine Zeitreise ist nicht linear, nicht chronologisch, ich suche nach Impressionen, Spotlights, blättere in den Lebensseiten eines Menschen, treffe Menschen und Ereignisse einer anderen Zeit. Möglich, daß den Leser des 21. Jahrhunderts  manches wie Märchen aus 1001 Nacht anmutet, aber Retrospektiven stellen ihre ganz eigenen Regeln auf.

Anmerkungen

  1. 1. William Shakespeare, Sonett 128, Vers 1595 -1605, Übers. Friedrich Bodenstedt


In: William Shakespeare, Werke, Salzburg , um 1970, Bd.2, S.1046


  1. Die frühen Tasteninstrumente: Virginal, Clavichord mit 4-5 Oktaven, Spinett, Kielflügel mit zwei Registern


  1. Bartolomeo Cristofori, 1655 -1731, Instrumentenbauer. Lebte seit 1690 in Florenz am Hof Cosimo III.de Medici. Das herzogliche Inventar von 1700 verzeichnet ein „arpicembalo chè fà il piano e forte“, d.h. es kann differenziert leise oder laut gespielt werden, Tonumfang: vier Oktaven. Die technische Neuerung gegenüber den bisherigen Tasteninstrumenten: Ein Hammerkopf wird durch eine Stoßzunge gegen die Saite geschleudert (bisher wurde die Saite von Federn, Kielen gezupft) und sofort wieder zurückgeschleudert. Mit dem Drücken der Taste wird der Dämpfer gleichzeitig angehoben, der nach dem Loslassen der Taste die schwingende Saite abfängt. Zwei gleichgestimmte Saiten, auch Chor genannt, liegen nebeneinander und ergeben eine größere Lautstärke. Je nach Kraftaufwand des Spielers beim Niederdrücken der Taste kann die Lautstärke von piano = leise, stufenlos zu forte = laut, differenziert werden.


  1. Friedrich Schiller, 1759 – 1805. Dichter, Dramatiker, Historiker. „Laura am Klavier“,


In: Anthologie auf das Jahr 1782, S. 19 -21, Stuttgart, Metzler o.J.


  1. Die Räuber“, Drama von Friedrich Schiller. Mannheim, Hoftheater, 13. Januar 1782, Uraufführung


  1. Johann Andreas Streicher, 1761 -1833, Komponist, Pianist, Klavierbauer. Er besuchte wie Friedrich Schiller die herzogliche Karlschule in Stuttgart; die beiden wurden Freunde. 1793 heiratete er die Tochter des Augsburger Klavierbauers Johann Andreas Stein, Nanette. 1794 ließ sich das Ehepaar Streicher in Wien nieder und eröffnete eine Klaviermanufaktur. Streicher und seine Frau Nanette (1769 -1833) gehörten zum Kreis von Ludwig van Beethoven. Die in der Manufaktur Streicher/Stein gebauten Instrumente verfügten über 5 1/2 Oktaven.


  1. Ludwig Bösendorfer als Ehrenretter des Claviers


In: Wiener Caricaturen, Nr.16, 16.4.1905, S.6


  1. Ferruccio Busoni, Neue Ästhetik der Tonkunst, Wilhelmshaven 2001, S.138


  1. Ferruccio Busoni an Ludwig Bösendorfer, Triest 18.2.1876, Nachl.Busoni, MuStaBi


  1. Ludwig Bösendorfer an Ferruccio Busoni, 16.März 1906, Nachl. Busoni, MuStaBi


  1. Wilhelm Busch, Fipps der Affe, In: Wilhelm Busch, Gesamtausgabe, Hamburg 1959, Bd.2, S. 331 – 336


  1. Ferruccio Busoni, Neue Ästhetik der Tonkunst, Wilhelmshaven 2001, S. 41


13. Clemens, Fürst Metternich, 1773-1859, Staatskanzler, Außenminister der k.k. Monarchie, in den Jahren 1809 – 1848