Hermann Scherchen dirigiert Gustav Mahler
NIEMAND KONNTE SICH DIESER MUSIK ENTZIEHEN …
Hermann Scherchen dirigiert Gustav Mahler
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EINLEITUNG
„Niemand konnte sich dieser Musik entziehen…“ . Hermann Scherchen, gerade 15 Jahre alt, Sohn eines Kreuzberger Gastwirts, so beschreibt er es in seinen Erinnerungen „ Ma première Vie“, wie er an schönen Tagen vor der väterlichen Kneipe saß, die Partitur einer Mahler-Symphonie ausgebreitet auf seinen Knieen, mühsam irgendwoher erworben, er anfing diese Partitur zu entziffern, zu studieren.
Für die Uraufführung der „Symphonie der Tausend“, seiner VIII. Symphonie in Es-Dur, forderte der Komponist Gustav Mahler zusätzlich zu den acht Gesangssolisten, mehrere Chöre, erweiterte Orchesterbesetzung, Zusatzorchester. Das trug der Symphonie ihren Namen ein, sie wurde zur „Symphonie der Tausend“.
München, September 1910: Orchester-Proben in der Neuen Musik Festhalle in München, dabei das Blüthner-Orchester aus Berlin unter der Leitung von Georg Göhler. An einem Pult der Bratschisten saß ein knapp 20-jähriger Musiker aus Berlin-Kreuzberg, Hermann Scherchen.
Die Faszination, die nahezu magische Wirkung, die der Kosmos Mahler auf den damals 20-jährigen Musiker ausübte, wurde zum lebenslangen Engagement für die Musik Mahlers.
1933: Hermann Scherchen geht ins Exil. Mit dem Ende des 2.Weltkriegs, 1945 erging es ihm wie vielen anderen Künstlern, die das III. Reich in die Emigration gezwungen hatte, er konnte an einmal erreichte Erfolge und Bekanntheit nicht mehr anknüpfen. So geriet – nicht nur, aber auch, sein großes Engagement für das Werk von Gustav Mahler – nahezu in Vergessenheit.
Ich möchte mit meinem Text über „Hermann Scherchen und Gustav Mahler“, in nuce entstanden schon während meiner Arbeit am Nachlaß des Dirigenten, erzählen, berichten; vielleicht auch zur weiteren Auseinandersetzung mit diesem nicht unumstrittenen Künstler anregen.
… Hermann Scherchen war ein Förderer , ein Fordender und ein Forscher.
Er förderte mehrere Generationen der komponierenden Avantgarde, er forderte von allen, … Klarheit über das, was sie tun, und er forschte in allen Bereichen der Musik.
Er war jedem akustischen Erleben auf der Spur und wirkte jeder gemütlichen Behäbigkeit mit seiner unbequemen Unerbittlichkeit entgegen. …
Mit diesen Worten eröffnete der Komponist Giselher Klebe (1925 – 2009), Präsident der Akademie der Künste, Berlin von 1986 – 1989, die Ausstellung „Hermann Scherchen. Musiker, 1891 – 1966“ im September 1986 in der Akademie der Künste. Mit dieser Ausstellung und der sie begleitenden Publikation wurde der Nachlaß der Öffentlichkeit vorgestellt und allgemein zugänglich gemacht. 1)
1974 hatte das Archiv der Akademie der Künste, Berlin den Nachlaß Hermann Scherchen übernommen; der Komponist Luigi Nono, ehemals Schüler von Scherchen und Hans Ulrich Schmückle, der als Bühnenbildner mit Scherchen zusammengearbeitet hatte, waren die Initiatoren, daß der Nachlaß der Akademie der Künste übergeben wurde. 2)
Mit der Ausstellung, dem Katalog begann die bis dahin kaum als nennenswert zu bezeichnende Auseinandersetzung mit der Person und dem Musiker, mit der Werkbiographie des Dirigenten. Es gibt viele Unschärfen, bedingt durch eine historisch begründete prekäre Quellenlage. Möglich, daß auch darin die Ursache zu suchen ist, daß Scherchen um René Trémine zu zitieren, „The best known anknown!“ ist – immer noch? 3)
Folgt man den biographischen Daten des Musikers Hermann Scherchen bestimmen drei Zäsuren Leben und Werk:
Die erste Zäsur setzt das Jahr 1933 mit seinen politischen Umwälzungen in Deutschland, Hitler und die Nationalsozialisten kommen an die Macht: Hermann Scherchen verläßt Deutschland, - aus politischen wie aus künstlerischen Gründen.
Die zweite Zäsur: 1933 – 1945, die Jahre der „Diktatur des Hausknechts“ (Alfred Kerr) – der Aktionsradius des Musikers verengt sich in dem Maße, wie die Nationalsozialisten und der Krieg Europa überrollen. Scherchen wählte als Wohnsitzland die Schweiz.
Die dritte Zäsur: 1945 - 1966. Nach Kriegsende bleibt die Schweiz Wohnsitzland. Scherchen nimmt seinen weitreichenden künstlerischen Aktionsradius wieder auf.
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BERLIN - Anfänge
Scherchen, geboren in Berlin am 21. Juni 1891, als Sohn eines Gastwirts in Kreuzberg; er lernte erst Geige, dann Bratsche. Sehr bald folgten erste Engagements in den Kiez- Kneipen, die väterliche Kneipe wirft nicht genug ab für die Familie, der Sohn muß mithelfen die Familie zu ernähren.
1906 erschien die Partitur der 6. Mahler, die sich Scherchen sofort kauft und:
…Ich sehe mich immer noch, wie ich vor unserer Kneipe in der Kurfürstenstraße auf einem Stuhl saß … und solange die Sonne schien, die Partitur studierte … nach ungefähr dreieinhalb Wochen konnte ich diese ganze Mahler-Sinfonie auswendig …
„… Ich arbeitete (…) Ich sage: arbeitete, weil ich nie nur die Partitur gelesen, sondern auch gehört habe. …
… und dann kam kurz danach (nach einer 7. Beethoven dirigiert von Oskar Fried) als zweites ganz großes Ereignis die „Siebente“ Mahler zum ersten Mal in Berlin. 4)
In dem autobiographischen Fragment „ Mein erstes Leben“ 5) beschreibt Scherchen dieses Studium der Partitur genauer:
… und beginne das Studium, NUR aus innerer Klangvorstellung heraus (d.h. ohne jede Zuhilfenahme eines Instrumentes). Eine halbe Stunde benötige ich, bis alle Noten des ersten Taktes als Tonhöhe, Akkordteil, Melodiewert, Klangfarbe und Dynamik klar in mir tönen und sich zum Klangganzen des Orchesters verweben - danach BESITZE ich diesen Takt in vollkommener Imagination. Die zweite Bemühung beansprucht danach nur noch 29 1/2 Minuten, die dritte 29 … . Ich „lese“ nicht (wie es selbstbetrügerisch immer wieder von Partiturkennern heißt), sondern HÖRE in kompromißlos strengem Studium, wie sich das Noten-BILD überwältigend in Klang umwandelt. Nach drei bis 4 Wochen habe ich die Symphonie SO erarbeitet, d.h. sie beginnt nun OHNE NOTENBILD aus mir heraus zu tönen … .
Scherchen reflektiert auch die Gedankenwelt, die sich in und hinter den Noten verbirgt:
… Noch kann ich die edle Melodik von Mozarts Streichdivertimento in Es-Dur nicht in Beziehung bringen zu Mahlers Dostojewski-Menschentum, um das ich schon weiß, das ich aber noch nicht zur Einheit der Musik zusammenzubinden vermag mit Mozarts Freimaurer-Frömmigkeit. …
Diese letzten Sätze Scherchens sind noch sehr dem musikalisches Denken der Spätromantik verhaftet; in der Diktion durchaus vertretbar, aber gedanklich folgt er mit dieser Einschätzung des Komponisten Mozart den Fehlinterpretationen, den Fehlurteilen des 19.Jh.; das romantische 19.Jh, bezog sein musikalisches Kunstverständnis weitgehend auf Beethoven.
Bis diese Fehleinschätzungen über Mozart und seine Kompositionen ausgeräumt sein werden, wird nahezu ein weiteres Jahrhundert vergehen müssen. Wer also will es einem jungen Mann von 15 Jahren in Berlin-Kreuzberg ankreiden, landläufige musikalische Einordnungen zu übernehmen.
1907, im Gründungsjahr des Blüthner-Orchesters wurde Hermann Scherchen als Bratschist ins Orchester engagiert. Das Orchester gastierte viel auch außerhalb von Berlin. 6)
Scherchen über Georg Göhler:
… Beethoven, Mozart bis Mahler habe ich mit in den schönsten Aufführungen durch ihn erlebt. Leider ging seine Fähigkeit sich mit der Zeit selbst auseinanderzusetzen, gerade nur bis zum jungen Richard Strauss … Göhler aber war ein begeisterter Mahler-Anhänger – eigentlich sehr verwunderlich, wenn er (den späteren , Anm.d.A.) Strauss ablehnte. Bei ihm spielten aber tatsächlich ethische Gesichtspunkte mit hinein. Er fand Strauss einen leichtfertigen, oberflächlichen, genialischen Musiker und Mahler einen ganz tief philosophischen und ethisch überbetonten, den man nicht genug in den Vordergrund stellen könne. Deshalb lehnte er über den ‚Don Juan‘ hinaus den ganzen späteren Strauss ab. Ihm verdanke ich die Bekanntschaft mit Mahler, mit der achten Mahler-Sinfonie. Ich glaube, es war 1910, ich kam wieder ins Blüthner-Orchester zurück – ich hatte anderswo im Café gespielt (Schicksal arbeitsloser Musiker mit Saisonverträgen, Anm. des Autor). Gustav Mahler brauchte für die Münchner Uraufführung (…) 250 oder 300 Mann Orchester und stellte mehrere Chöre zusammen (…) damals stellte der Kern dieser ganzen Chöre der wunderbare Riedelsche Gesangsverein unter Göhler. Und Göhler hatte auch die Einstudierung des Werkes im ganzen chorischen Teil und mit den Solisten übernommen ( …) und ich saß im Orchester und konnte nicht mehr spielen und zitterte bei dieser unerhörten Verdichtung von Ausdruckswollen, die diese Musik gestaltete. … 7)
1912 lernte er Arnold Schönberg kennen und dirigierte einige Aufführungen der Uraufführungstournee des „Pierrot Lunaire“, Oktober, November 1912. 8)
1913 organisierte und dirigierte Scherchen eine Privataufführung der 1.Kammersymphonie von Schönberg.
Das erste öffentliche Auftreten als Dirigent mit dem Blüthner-Orchester war am 4. Februar 1914:
Das Programm: 1. Kammersymphonie von Arnold Schönberg, 5. Symphonie von Gustav Mahler. Scherchen beschreibt es als sein zweites Konzert in seinen Erinnerungen:
„ … Mein zweites Konzert fand im Jahr darauf statt, ebenfalls in Berlin, in der Singakademie (heute Maxim-Gorki Theater, Anm. d. Aut.). Programm: Schönberg ‚Kammersinfonie‘, öffentlich, die erste öffentliche Aufführung in Berlin, und daran anschließend Gustav Mahler, Fünfte Sinfonie in der neuen Ausgabe, in der neuen Instrumentation. Dieses Konzert führte zu einem großen Skandal. Und zu einer unerhörten Begeisterung. Viele Leute, die wüste demonstrierten, vielleicht noch mehr gegen den Mahler als gegen den Schönberg. Hier waren offensichtlich auch schon antisemitische Tendenzen dabei. …“ 9)
'Sommer 1914, Scherchen hat sein erstes Engagement in Dubbeln, Lettland angetreten; dort überraschte ihn der Ausbruch des Ersten Weltkriegs; er wird als Kriegsgefangener nach Rußland gebracht. Nach anfänglicher Odyssee der Kriegsgefangenen wurde Scherchen bis 1917/18 in Watkja untergebracht; er entfaltete in der kleinen Kreisstadt am Ural eine umfangreiche und rege Tätigkeit. 10)
Diese vier Jahre Kriegsgefangenschaft sind für Scherchen keine verlorenen Jahre: er unterrichtete, u.a. deutsch, später gründete er einen Chor, ein Orchester, komponierte, lernte russisch, beschäftigte sich intensiv mit der Gedankenwelt der russischen Revolution – das sollte ihm später das Etikett des „roten“ Scherchen eintragen. In diesen vier Jahren bildete sich das Fundament seiner späteren künstlerischen Tätigkeit heraus – und es zeigte sich seine durch nichts zu bremsende rastlose Arbeitsenergie, das unaufhörliche Suchen nach neuen Herausforderungen.
Heimkehr 1918 nach Berlin, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen spielte er wieder im Orchester, als Bratschist.
Anmerkungen
- 1) 'Luigi Nono, (1924 – 1990), Komponist und Schüler von Hermann Scherchen
Hans Ulrich Schmückle, (1916 – 1993), Bühnenbildner; u.a. Zusammenarbeit mit Scherchen bei „Idomeneo“(Mozart), Neapel Teatro San Carlo 10.3.1962.
2) Giselher Klebe, Komponist, (1925 – 2009). Giselher Klebe, Vorwort. In: Hermann Scherchen. Musiker,1891 -1966. Berlin 1986, S. 3
3) Die lückenhafte Überlieferung des Nachlasses hat historische Ursachen. Scherchen hat oft den Wohnsitz gewechselt, jeder Umzug bedeutete „Ballast abwerfen“. Wirklich seßhaft wurde er erst ab 1954, aber auch aus dieser Zeit ist das Material eher lückenhaft überliefert. Locker formuliert, er ging nicht besonders sorgfältig mit seinem zukünftigen Nachlaß um; ein übriges trugen die Umstände bei, die dazu führten, daß das Nachlaßmaterial Scherchen erst 1974 auf Betreiben von Luigi Nono und Hans Ulrich Schmückle aus dem verlassenen Grundstück (nach dem Tod von Pia Scherchen 1968) in Gravesano in das Archiv der Akademie der Künste, Berlin gebracht werden konnte.
Hermann Scherchen war fünfmal verheiratet: mit Pauline/Paula Ristenpart, Auguste Jansen, Gerda Müller, Schauspielerin, Hsiao Shushien, Komponistin, Pia Scherchen
4) Klemm, S. 28f. : 7. Mahler: Am 24.1.1911, UA, erstmals vollständig in Berlin, dirigiert von Oskar Fried. Vgl. Lucchesi, S. 161 f.
5) Lucchesi, S. 155f.
6) Georg Göhler, 1874 -1954, Komponist, Dirigent, Musikschriftsteller; als Chordirigent leitete er in Leipzig den Riedel-Verein. Er setzte sich für die Kompositionen Anton Bruckners ein, gehörte zum Kreis der Förderer der Musik von Gustav Mahler. 9.1.1914: Göhler dirigiert die letzte (sogen. Neu)Fassung der V. Symphonie, die Mahler kurz vor seinem Tod vollendet hatte. Der Nachlaß (u.a.mehr als 23.000 Briefe) wird in der Ratsschulbibliothek, Zwickau verwahrt.
Blüthner-Orchester, 1907 in Berlin gegründet, ab 1925 Berliner Sinfonie-Orchester, heute Konzerthausorchester Berlin. Benannt nach dem Sponsor „Julius Blüthner Pianofortefabrik “, 1853 von Julius Blüthner in Leipzig gegründet. Gespielt wurde im „Blüthner-Saal“ des Klindworth-Scharwenka-Konservatorium, Genthiner Straße 11 , Berlin-Tiergarten.
Riedelverein, Gesangsverein für geistliche Musik, Leipzig, gegründet von Carl Riedel (1827 -1888), Kapellmeister und Komponist, Pionier mit Aufführungen vor allem der Bach’schen Chormusiken. Mitbegründer des A(llgemeinen)D(eutschen)M(usik)V(erein)
7) Klemm , S. 21f.
8) Schönberg lebte zwischen 1911-12 in Berlin. Albertine Zehme (1857-1946), Diseuse und Sopranistin, gab die Anregung zur Vertonung des Textes von Albert Giraud.
9) Klemm, S, 37:Das zweite öffentliche Konzert: 18.3.1914 mit J. Haydn, Symphonie 103, W.A. Mozart, Les Petits Riens, und A. Bruckner, 9. Symphonie.
Die Folge - ein Engagement als zweiter Dirigent nach Dubbeln (Lettland) mit dem Symphonischen Orchester Riga.
10) Klemm, S. 71 ff. Wjatka: eine kleine Stadt(40.000 Einwohner) im Ural
Dirigieren, Lehren, Forschen 1920 – 1933
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Hermann Scherchen übersiedelt 1920 nach Leipzig, nachdem er ein Engagement als Dirigent des Grotrian-Steinweg-Orchesters, Leipzig angenommen hatte; dieses Engagement bot ihm – endlich – die Möglichkeit, seine in Rußland gewonnenen Erkenntnisse als Orchestererzieher auszuprobieren. 11)
Auf Leipzig folgte Frankfurt/M., die Museums-Konzerte, 1922 -1924, dann Königsberg, O(stmarken) R(undfunk)AG 1928 -1932, dazu kamen Chorleitung und –dirigate usw. 12)
1922 wurde er ständiger Gastdirigent für das Stadtorchester Winterthur. Diese Verpflichtung endete 1950 mit seiner Entlassung wegen des Verdachts kommunistischer Umtriebe. 13)
Scherchen, der Autodidakt, hatte einen ausgeprägten Zug zum Lehren, Lernen, Erfinden. Verfolgt man die Lebenslinien des Musikers, gewinnt man den Eindruck, daß diese Facetten seiner Begabung ihm oft wesentlicher waren als das praktische Musizieren, das Dirigieren. Der Didaktiker Scherchen plante Arbeitstagungen, Orchestergründungen, publiziert, hält Vorträge, betreibt Forschung für alte (damals) vergessene Musik, arbeitete für das neue Medium Rundfunk.
Im November 1932 dirigierte Hermann Scherchen Konzerte in München, aus Anlaß der „ Münchner Woche“ am 22. und 24. November; er erinnert sich:
… Inzwischen fing jene politische Entwicklung an, die die Jahre von 1933 an gekennzeichnet hat und die ich selbst im Ausland erlebte. ... dann kam mein letztes Konzert im Dezember 1932 in München. … Es war ein unerhörter Triumph für alle Werke: die Erste Sinfonie von Honegger, von Reger, glaube ich, die ‚Romantische Suite‘ und von Mahler das Adagio aus der Zehnten Sinfonie. … 14)
Es war Scherchens letztes Konzert in Deutschland bis nach Kriegsende.
Scherchen fährt fort in seinen Erinnerungen an das Jahr 1932/33:
… Vorher hatte ich das große Glück zum erstenmal das musikalische Wien zu erleben. Das kam so: Ich war nach Wien eingeladen worden, die neunte Mahler- Sinfonie für den Rundfunk aufzunehmen. … Bei der ersten Probe erschien plötzlich eine Schar von Jünglingen und jungen Mädchen feierlich mit einem Fürsprecher. Sie fragten mich, ob ich erlauben würde, daß sie der Probe beiwohnen . … Sie seien Schüler von Webern und von Berg, und es sei 'für sie sehr wichtig, die Arbeit an der „Neunten“ Mahler zu erleben …
Nach dieser Begegnung entstand das Orchesterstudio Wien; es folgte das Konzert am 31.Januar 1933 im Wiener Konzerthaus. 15)
Scherchen wählte die Schweiz als Exil-Land; bis zum Beginn des 2. Weltkriegs am 1. September 1939 war er als Reisedirigent unterwegs, ausgenommen war Deutschland. 1939 dirigierte er in Athen und in Palästina, organisierte in Straßburg und Brüssel Arbeitstagungen, bis kriegsbedingt der Radius sich ausschließlich auf die Schweiz einengte. 16)
1935 kommt es zur Gründung des Verlags „Ars viva“ in Brüssel, das Verlagsprogramm verzeichnet die geplanten und auch teilweise realisierten Publikationen alter und neuer Musik. 17)als begleitende Publikation erscheint die Zeitschrift „Musica Viva“, die allerdinges (Geldmangel!) nach drei Nummern, 1937 wieder eingestellt wird.
Nach Kriegsende wird mit einem etwas veränderten Namen „ Ars Viva“ ein Verlag,1949, in Zürich gegründet; aber wie viele Initiativen dieser Art von Scherchen, endeten diese Projekte -entweder durch Kapitalmangel oder wurden von anderen Verlagen übernommen.
1940 – 1944 leitete er in Bern eine Dirigentenklasse, gab Kurse für Instrumentation und Interpretation am Konservatorium in Bern, veranstaltete Ferienkurse, - eine Unterbrechung seiner intensiven Tätigkeit bedeuten die Kriegsjahre keineswegs, bestenfalls eine geographische Einengung.
1944 bekommt er Kontakt zur S(chweizerischen) R(undspruch)G(esellschaft).
1945 Übersiedlung nach Zürich; Radio Beromünster engagiert Scherchen als Dirigent für das Orchester des Senders. Radio Beromünster ist der deutschsprachige Sender der S(chweizerischen) R(undspruch)G(esellschaft) mit Studios in Basel, Bern und Zürich.
Mit Kriegsende nahm Scherchen seine umfassende Reisetätigkeit als Dirigent und Lehrender wieder auf, in Ankara, Chile, bei den Darmstädter Ferienkursen 18), in Prag usw.; dazu kommen Plattenverträge und Rundfunkarbeit.
1950 kommt es zur Entlassung aus sämtlichen schweizerischen Positionen; der Vorwurf: kommunistische Umtriebe. Scherchen hatte beim Festival „Prager Frühling“ ein Konzert dirigiert und im Rahmen der tschechoslowakischen Kulturwoche in Basel einen Vortrag über „Die Tschechoslowakei 1950“ gehalten. Europa in Zeiten des Kalten Krieges -Grund genug um in der deutsprachigen Schweiz einen Skandal zu entfesseln, Scherchen wurde ein – Bauernopfer (?) seiner Kompromißlosigkeit. Erst 1965 kommt es wieder zur Zusammenarbeit mit einer Schweizer Institution, mit Radio Lugano. 19)
Ungeachtet dieser Hetzcampagne von 1950 behielt Scherchen den Wohnsitz in Zürich; kommt weiter seinen internationalen Verpflichtungen nach – reist nach Italien, Österreich, Deutschland, New York usw.
1954 erwarb Scherchen im dem Tessiner Dorf Gravesano ein altes Bauernhaus. Gravesano wurde Wohnsitz und Experimentierzentrum. Scherchen ließ den alten, baufälligen Stall umbauen in schalltotes Studio. Es wurde der ideale Ort für die Experimente und Aufführungen zeitgenössischer elektronischer Musik. 20) Zwischen 1954 und 1966 war Gravesano das „Mekka“, zeitweise sogar Mittelpunkt der elektronischen Musik, der elektro-akustischen, schallwissenschaftlichen Szene.
Am 7. Juni 1966 dirigierte Scherchen im Rahmen des Maggio Musicale Fiorentino die Premiere „Orfeide“ (Malipiero). Er stirbt, völlig unerwartet, am 12. Juni 1966 in seinem Hotel in Florenz.
Anmerkungen
11) Grotrian-Steinweg Orchester: auf Initiative des Leipziger Konzertverein gegründet 1920, finanziert von der Klavierbaufirma Grotrian – Steinweg, Leipzig. Scherchen übernimmt im selben Jahr die Orchesterleitung; die dauerhafte finanzielle Absicherung des Orchesters bedeutete das nicht. Das Orchester muß um seinen Erhalt finanziell zu erreichen populäre Konzerte spielen, im Palmengarten, im Leipziger Zoo usw. Die Inflation von 1923 tut ein übriges; das Ensemble löste sich auf.
12) 1924 leitete Scherchen sein erstes Rundfunkkonzert, Arnold Schönberg steht auf dem Programm. Scherchen eignete sich – autodidaktisch – umfangreiches technisches Wissen über das neue Medium Rundfunk an , beschäftigte sich mit Fragen der Akustik – das ging so weit, daß er sich immer wieder aktiv mit Lösungsvorschlägen einschalten konnte.
13) Winterthur: Das Orchester besteht zunächst aus Amateuren; Scherchen ergänzte das Orchester durch das Engagement professioneller Musiker und formte es zu einem professionellen Klangkörper. Das gespielte Programm reichte von schweizerischer Barockmusik bis zu zeitgenössischer Musik.
14) Klemm, S. 51f. Nach Recherchen in der Münchner Stadtchronik konnte das Konzert nicht festgestellt werden, weder mit Kritiken noch mit Programmen. Das bedeutet aber nicht, daß das Konzert nicht stattgefunden hätte; es könnte sein, daß die Behauptung des Kritikers Alexander Berrsche(eigentlich Lösch, 1883-1940), Musikschriftsteller, Musikredakteur der Münchner Zeitung zutrifft, - wie es auch Scherchen berichtet - es würden keine Rezensionen über das Scherchen - Konzert erscheinen. Er erklärte Scherchen, Grund wäre dessen Konzert in Hamburg gewesen, das er – Scherchen - im roten Pullover dirigiert haben soll mit propagandistischem Inhalt. Scherchen hatte zu diesem Zeitpunkt kein Konzert in Hamburg dirigiert; derartige Machinationen waren Teil der NS-gesteuerten Diffamierungscampagnen (die lange vor der „ Machtergreifung“ begannen), nicht nur gegen Scherchen.
15) Klemm, S. 52f. Am 22. August 1932 dirigierte Scherchen in der RAVAG ein Funkkonzert mit dem Wiener Sinfonieorchester/Wiener Symphoniker/. Auf dem Programm stand: Rudolf Mengelberg, Sinfonische Variationen für Violoncello und Orchester, EA, Solist: Rafael Lanes und Gustav Mahler, IX. Symphonie.
Wenig später dirigierte er im Rahmen einer Arbeitstagung mit Absolventen der Musikschulen ein sogen. Studio-Konzert; anzumerken wäre, daß in den Rezensionen immer auf ein erstes Konzert hingewiesen wird, zu dem – bis jetzt - keine Unterlagen auffindbar sind.
Wien, Orchesterstudio-Konzert im Großen Saal des Wr. Konzerthauses:
31.1.1933
Beethoven, Große Fuge B-Dur
Strawinskij, 1.Klavierkonzert, Solist Jakob Gimpel
Mahler, Adagio aus der X. Symphonie /Fassung Krenek
Dirigent: Hermann Scherchen
NEUE FREIE PRESSE, gez. I., Nr. 24566, 2.2.1933
… Von einem kleinen Kreis auf den Schild gehoben, hat Hermann Scherchen, der ehemalige Königsberger Rundfunkdirigent, mit einem Orchester, das sich im wesentlichen aus jungen Absolventen der großen Wiener Musikschulen zusammensetzt, nach einem ersten, weniger geglückten Versuche ein zweites Konzert veranstaltet … den Willen zu interessanter Programmbildung ebenso überzeugend dokumentierte wie den Mut, mit weniger erprobten Kräften an schwerste Aufgaben heranzugehen. Die Dirigiertechnik Scherchens hat viel Gewaltsames und den Verzicht auf den Taktstock möchten wir nicht gerade für eine Errungenschaft halten; er ist übrigens ebensowenig neu wie die Orchesteraufstellung (erste und zweite Violinen links, Celli rechts vom Dirigenten) und die zur Verbesserung der Akustik angebrachte Wandverkleidung. ...
Die Aufführung ließ an das, noch unter dem Eindruck dieser Reinheit, wohl auch an Exaktheit in den exponierten Partien manches zu wünschen übrig. Wir würden das, noch unter dem Eindruck dieser Musik und der glühenden Begeisterung stehend, mit der die jungen Leute im Orchester bei der Sache waren, nicht hervorheben, wenn nicht gerade Scherchen als das Muster eines Genauigkeitsfanatikers und Einstudierers mit ostentativer Beflissenheit gegen andere Wiener Dirigenten ausgespielt würde.
16)Zu den Arbeitstagungen:
1933 Straßburg, 193 8 die sechste und letzte in Braunwald/Schweiz. Das Programm dieser Tagungen: jungen Musikern die Möglichkeit der Begegnung mit Musik zu bieten, die in Deutschland verfemt wurde, diese zu studieren, Künstlern zu begegnen, die in Deutschland nicht mehr auftreten durften – in einem Arbeitsklima ohne jede Einschränkung, politischer Repression usw.
17) Lucchesi, S.35
18) Darmstädter Ferienkurse: Scherchen kommt in Kontakt mit der jungen Musikergeneration des deutschsprachigen Raums.
19) Seit Scherchen 1944 als Leiter der Musikabteilung von Radio Beromünster ernannt worden war – eine Ernennung, die vonseiten der deutschschweizerischen rechtspopulistischen Presse heftig angegriffen wurde – schwelte dieser Konflikt, der dann mit dem Basler Vortrag von 1950 voll zum Ausbruch kam und zu Scherchens Entlassung aus allen öffentlichen Schweizer Ämtern führte. Scherchen war nicht der einzige, der solchen Angriffen ausgesetzt war; fast ist man versucht zu sagen, sie waren für die in die Schweiz niedergelassenen Exilanten Alltag zwischen 1933-1945.
20) Klemm, S. 63f.; Manfred Krause, Das Gravesaner Studio und seine Ausstrahlung. Erinnerungen eines Außenseiters. S. 116ff. sowie Abb. S. 114 und S. 115 In: Hermann Scherchen. Musiker 1891-1966. Berlin 1986
Der DIRIGENT
BERLIN, LEIPZIG, WIEN - BIS 1933
… so lerne ich … mit wenigsten, einfachen Mitteln, künstlerisch wesentlich und kompromißlos zu arbeiten … '1)
Die Symphonien von Gustav Mahler waren in den Jahren zwischen 1900 -1914 als „Novitäten“ heiß umkämpft, gefeiert, abgelehnt. Berlin hatte – noch zu Lebzeiten des Komponisten - viele Mahler-Aufführungen erlebt. 1905 hörte Scherchen die 3. Mahler in einem Sonntagsvormittagskonzert 2)
1911: Scherchen spielte Bratsche im Berliner Philharmonischen Orchester; Oskar Fried dirigierte am 24.11.1911 die Berliner EA der VII. Symphonie.
Scherchen erinnert sich:
… da war Mahler mit der gewaltigen Bekenntnismusik des ersten Satzes, den skurril selbstverlorenen zwei Nachtmusiken, dem wild verzweiflungsvollsten „Scherzo“ – und dem lauten „Amerika“-finale, voll von verheimlichter wienerischer Zärtlichkeit. Die weite Raumhaftigkeit der Mahlerschen Symphonik erschloß sich mir mühelos – nichts war zu lang, nichts zu unbedeutend, nichts zu übergewichtig an der 80 Minuten dauernden Symphonie! Sie begann zu klingen voll so unerhörter Lebensintensität, daß sie seit jenem ersten Zusammentreffen mit ihr – für immer weiter tönte in mir (trotzdem ich das Werk bis zu meiner eigenen Plattenaufnahme davon dann 45 Jahre lang nicht mehr hörte!). Frieds Arbeit machte die Aktualität Mahlers als künstlerisches Großereignis um die Jahrhundertwende voll bewußt: NIEMAND konnte sich dieser Musik entziehen im Orchester, als sie sich brennend reliefhaft realisierte. Wir ertrugen ihre mehr als einundeinviertelstündige Zeitdehnung, nein: ertrugen sie nicht, sondern LEBTEN sie in atemberaubender Hingegebenheit! War ich in Mahlers VII. zuerst jenem neuen Kunstgefühl begegnet, das den Expressionismus einzuleiten begann, so schlug mir dessen Feueratem voll entfacht aus Schönbergs Werk entgegen. …' 3)
Bei der UA der VIII. Mahler in München, am 12.September 1910: …
und ich saß im Orchester und konnte nicht mehr spielen und zitterte bei dieser unerhörten Verdichtung von Ausdruckswollen, die diese Musik gestaltete. …' 4)
Am 4.Februar 1914 dirigierte Scherchen öffentlich zum ersten Mal eine Mahler –Symphonie. Er wählt die V. Symphonie und dazu - programmatisch gezielt ausgewählt - von Arnold Schönberg die 1. Kammersymphonie.
Nach der Probe zu diesem Konzert, schreibt Schönberg an den jungen Dirigenten, - und es ist anzunehmen, daß die kritisierten allzu schnellen Tempi auch den Mahler „trafen“: 5)
… Ihre Tempi durchaus viel zu schnell … Sie scheinen auch in dem Irrtum befangen zu sein, Temperament heißt ‚schnell‘! Während Temperament an sich gar nichts heißt … Legen Sie diesen Irrtum ab, und musizieren Sie mit gedämpften, verhaltenem Temperament ..
Diese „Symphonie Nr. 5“ wird Hermann Scherchens ganzes Dirigentenleben „begleiten“, sie zieht sich wie Ariadne-Faden durch seine künstlerische musikalische Existenz.; er hat sie 22 mal dirigiert. Im Mai 1966 dirigierte er die V. Symphonie in Bremen; es sollte sein letztes Konzert sein, wenige Tage danach am 2.Juni 1966 ist er in Florenz gestorben.
Die wenigen Zitate aus den autobiographischen Aufzeichnungen des Dirigenten erzählen von der lebenslangen Faszination, die die Mahler’sche Musik auf den Musiker ausübte, wie sie ihm den Weg öffnete zur Dirigentenlaufbahn, zum Erkennen seines didaktischen Talents. 1919 veröffentlicht er aus Anlaß eines Konzerts in dem er die III. Mahler dirigieren wird, einen Aufsatz, 'Gustav Mahler, der Musiker-Philosoph.
Scherchen versucht das Phänomen Mahler - Musiker-Philosoph und Prophet zugleich zu entschlüsseln; er erkennt, daß die vermeintliche musikalische „Trivialität“ der Mahler‘schen Sprache – Volksmusik und Volkstänze, wie z.B.Ländler – sind ihm nur Ausdrucksmittel zum Zweck – dienen dem höheren Ziel des Geistigen :
… Gleichnisse haben hier den Weg zeigen sollen, unvollkommene Bilder erklären wollen, was aus der Architektonik des Werkes selbst sichtbar wird. Diese riesenhafte Formidee wäre nicht möglich gewesen, ohne den Phropheten in dem Musiker Mahler, die kühne cyklopische Rhythmik des ersten Satzes als der rein musikalische Einfall kaum niedergeschrieben worden: ein Hinweis darauf, wie durch diesen Künstler-Mischtyp auch das rein Musikalische erweitert und neu geformt werden kann. … 6)
In seiner Autobiographie „Mein erstes Leben“ berichtet Scherchen außerdem von einem -fast möchte ich sagen - „expressionistischen“ Gespräch, das in einem Kaffehaus stattgefunden hat; Schönberg lebte damals in Berlin:
… Was damals in der Kunsterkenntnis unter Künstlern vor sich ging, zeigt folgendes Wiener Begebnis: Gustav Mahler, mit Schönberg verabredet, trifft diesen und seine Schüler im Kaffeehaus. Sich zu ihnen setzend, beginnt er über Dostojewski zu sprechen, mit dessen neuen Charakteren und Hauptpersonen (Mörder und Dirne in „Schuld und Sühne“) die Exklusivität des geschmacklich Approbierten des Kunstwerkes sich auflöste. Von Dostojewskis Voll – und Gleichwertigkeit „ ALLER Menschenkreatur, gleich welcher Gestalt“ nahm Mahler sich das Recht, Fetzen von Soldatenliedern, vulgären Tanz –und Liebesweisen als Melodiegrundlagen in die Symphonik einzuführen! Kaum hatte Mahler geendet, so springt der junge Anton von Webern auf, hebt eifernd den Finger und ruft aus: „Ja aber wir haben den Strindberg“ dafür (das war zur Zeit, als Schönberg daran dachte, Balzacs Swedenborg-Novelle „Seraphita“ in ein Opernbuch umzuwandeln ) …'7)
Scherchen und seiner Generation galt Mahler als „Vollender“ einer musikalischen Sprach – und Ausdrucksform sowie gleichermaßen als Schöpfer eines Weges auf der Suche nach einer neuen Tonsprache – und – Form.
Zeit, Kunst- und Lebensgefühl des jungen Scherchen sind geprägt von dem um 1910 in Berlin alles dominierenden Expressionismus - von der Kunstszene bis zur politischen Haltung. 8)
Mit Beginn seiner Dirigentenlaufbahn, so stellt es sich jedenfalls retrospektiv dar, entstand das Image – Scherchen, der „Gegentypus“ zu den Pultstars, älterer wie jüngerer Generation.
Die meisten seiner Zeitgenossen, nicht nur Musiker, beschreiben ihn als erfolgreichen Außenseiter, insbesondere wegen seiner rigorosen Kompromißlosigkeit – nicht nur in musikalischen Dingen.
Die anfänglich eingegangenen festen Engagements als Dirigent sind nur von kurzer Dauer: Leipzig 1920/22, Frankfurt 1922/24, Königsberg 1928/31. 9)
Mit einer Ausnahme: Winterthur. Werner Reinhart, Schweizer Industrieller und Kunstmäzen, engagierte den jungen Dirigenten, dem längst ein hervorragender Ruf als Orchestererzieher – und leiter vorauseilte, 1922 für das Stadtorchester Winterthur. Scherchen erhielt Konditionen, die seinen künstlerischen Vorstellungen entsprachen, vor allem reizte ihn die Aufgabe das Stadtorchester, das zunächst von Musikliebhabern gestellt wurde, zu einem professionellen Klangkörper nach seinen Vorstellungen zu formen. Erst 1950 (die „Kommunistenaffäre“)wird Scherchen von dieser Position zurücktreten. 10)
Scherchen lernte Th.W. Adorno, der zum Kreis von Alban Berg gehört, während seiner Frankfurter Jahre kennen; dem jungen aufstrebenden Musikerphilosophen erscheint Scherchen als der Repräsentant einer neuen, heraufkommenden Dirigentengeneration.
Das in den „Musikblättern des Anbruch“ von Th.W. Adorno, 1926 veröffentlichte Porträt ist mehr als ein literarisches Porträt, es gleicht einer Analyse:
„… Scherchen repräsentiert erstmals wohl nach Art und Gesinnung einen neuen Typus des Dirigenten“ … ihm sei es … „um die Wirklichkeit der Werke wahrhaft zu tun. Deren Organon ist geschichtliche Erkenntnis, aber eben nicht die zuschauerhafte des Historikers, sondern die leidenschaftliche gegenwärtig im Material geleistete, die den Stand der Wahrheit in Werken ermißt und zu reproduzieren trachtet (…) Die Idee der konstruktiven Erhellung der Werke leitet ihn, er folgt ihr besonnen und bleibt des Restes von Unerhellbaren, in Konstruktion nicht aufgehenden gedenk, der in jedem Werk lagert.“ 11)
Die real-musikpraktische Darstellung verfaßte Paul Stefan; insbesondere unterstreicht Stefan das große Talent von Scherchen, binnen kurzem aus „bunt zusammengewürfelten“ Musikern, ganz unterschiedlicher Herkunft und Schule ein eingespieltes Orchester, einen Klangkörper zu formen:
… er hat, vom Radio abgesehen, offiziell recht wenig Förderung erfahren. Umsomehr haben seine Freunde getan: ein Orchester von nichts weniger als Dilettanten steht ihm in freiwilligem Dienst zur Verfügung …
In diesen Konzerten wurden aufgeführt, Krenek, 1. Symphonie, das zweite Mal der langsame Satz aus Mahlers nachgelassener Zehnter …
Daß sich Scherchen überall da als geradezu unheimlich disponierender und mit äußerster Deutlichkeit interpretierender Dirigent erwies, dabei keineswegs lehrhaft, sondern von einer inneren Bewegtheit, die sein Erlebnis jedesmal unfehlbar auf die Hörer übertrug, war trotz allem nicht so sehr das Wunder dieser Aufführungen. Wunderbar war vielmehr, was der Dirigent in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit, oft nur in wenigen Stunden aus dem Orchester gemacht hatte, das ja nicht etwa „eingespielt“ war … Man hat selten, und bei den besten Berufsorchestern einen solchen Zusammenklang, eine solche Einheitlichkeit der Leistung, einen solchen Elan feststellen können … 12)
Eine späte Würdigung des Dirigenten schreibt der Mahler-Forscher Henry –Louis de la Grange in Diapason 2003 anläßlich der CD -Veröffentlichung der III. Symphonie, eines Mitschnitts einer Aufführung 1960 in Leipzig (vgl. Diskographie) durch TAHRA:
… Hermann Scherchen n‘a pas seulement compté parmi les plus grands chefs de sa géneration, il a été de surcroît un admirable interprète de Mahler. Après plusieurs disques pirates qui ne lui faisaient pas honneur, le voici enfin avec cette splendide Troisième qui prend place d’emblée dans le peloton de tête des versions disponibles … '13)
Um diese kleine Dokumentation zur Dirigentenpersönlichkeit Scherchen abzurunden, darf die Stimme des Orchesters nicht fehlen. Diese Stimmen sind
allerdings zwiespältig: Ablehnend, wenig freundlich die einen, andere berichten weitgehend übereinstimmend, daß die Orchester-Proben unter ihm ein Erlebnis gewesen wären. Kein anderer konnte Tempi, Rückungen usw. so gut erklären wie er, das Durchspielen eines Stückes während einer Probe ergab einmalige Interpretationserfahrungen.
Nur dann - am Abend der Aufführung im Konzertsaal, Scherchen im Frack, da geschah – nicht immer, aber eben doch - etwas Merkwürdiges: plötzlich war alles anders, das Probierte verflachte bis zur rein technischen Wiedergabe.
Harry Goldschmidt, als junger Musiker bei Scherchen in Königsberg an der ORAG, versuchte dieses Phänomen zu erklären. Anlaß war das Symposium, das der DDR-Rundfunk im Juni 1986 organisiert hatte .
… Sobald er den Frack anziehen mußte, fühlte er sich beengt. Denn er war ein Mann, der mit seinen Musikern arbeitete, und die Arbeitsatmosphäre war die Voraussetzung für höchste künstlerische Norm und ihre Erfüllung. … 14)
Er war Teil der sich immer mehr erweiternden Mahler-Rezeption in den 20er und 30er Jahren.
… die Besonderheiten der Durchsetzung Mahlers … Neben den Kürzungen, die mit der Begründung einer einfacheren Verbreitung vorgenommen wurden, zeigte sich, daß berühmte Dirigenten wie Nikisch, Walter, Horenstein, Furtwängler, Klemperer, Mengelberg, Scherchen und Pringsheim bis zu Beginn der 20er Jahre auch durch die Auswahl der Werke traditionelle Aspekte in den Vordergrund rückten … Hinsichtlich der Merkmale der Interpretation lassen sich für die Jahre bis 1930 lediglich Vermutungen anstellen, da die für die Interpretation wichtigen Tonaufnahmen mit Werken Mahlers erst vereinzelt Anfang der 30er Jahre entstanden sind. Die erste Tonaufzeichnung liegt mit Oskar Frieds Einspielung der II. aus dem Jahr 1924 vor … '15)
In dem zitierten Text von Metzger, Mahler-Rezeption gibt es zwei Stichworte, die ich herausgreifen möchte.
Programmplanung: die übliche Programmplanung setzte wenig zeitgenössische Musik ein, der Schwerpunkt war Beethoven, viel Klassik und Romantik. Leidglich Richard Strauss als zeitgenössischer Musiker genoß die Gunst des Publikums. Welche Rolle bei der Programmplanung die Musikverlage sowie die Konzertagenturen dabei spielten, wäre ein interessanter Nebenschauplatz.
Scherchen plante seine Programme „modern“, strukturiert:
… Vier Absichten bestimmten das Gesamtbild meiner Programme von 1922-24: Das Bewußtmachen des die Zeit aufwühlenden Werkes Gustav Mahlers (IX., III., II. Symphonie), das Heranführen des sie neu befruchtetenden Geists Arnold Schönbergs, die Erweckung der sie vorbereitenden musikschöpferischen Feinstkraft im Werk Max Regers, und die Aufzeigung der vorgereiften Großwerke Richard Strauss`schen Komponierens … 16)
Der zweite Punkt ist das Thema: Kürzungen.
Bis weit in die erste Hälfte des 20.Jh. hinein war es durchaus üblich an den klassischen, romantischen aber auch an zeitgenössischen Werken Striche, Instrumentationsveränderungen zu setzen. Es ist der Dirigent Arturo Toscanini, der damit beginnt den Originaltext einer Komposition zum Maß einer musikalischen Aufführung zu machen, der Texttreue rigoros einforderte.
Noch nach 1945 blieb Hermann Scherchen bei seiner Gewohnheit –Striche, Änderungen am musikalischen Text vorzunehmen, eine Tatsache, die viel kritisiert wurde.
Das Problem dieser Einstellung zu einer Komposition, für die Scherchen kompromisslos eintrat, Striche, Veränderungen an der Instrumentation vorzunehmen, ist bei einer historisch-kritischen Beschreibung des Dirigenten Scherchen nicht leicht zu erläutern. Für die Striche, mit denen Scherchen nach 1945 weiter arbeitete, fehlt – von seiner Seite – für die Instrumentalmusik jede Begründung, wenn es denn überhaupt eine gäbe. Bleibt die Spekulation.
Einerseits vertritt er die Position der „punktgenauen“ (pointiert formuliert) Wiedergabe der musikalischen Textur, wie er es z.B. in seinem Aufsatz die „Kunst des Dirigierens“ verlangt. 17)
Dann wiederum fordert Scherchen rigorose Striche, vor allem wenn er Oper dirigiert und erklärt seine „Strichfreudigkeit“ mit musikalisch- dramaturgischer Notwendigkeit „ wir leben nicht mehr im Zeitalter der Postkutsche“ 18).
Bei symphonischen Werken hingegen besteht dazu keinerlei Notwendigkeit, dieses Argument sticht nicht. Wenn es – wie bei Platteneinspielungen – keine ökonomischen Zwänge waren, - was bewog ihn dann dazu – zu streichen? Diese Frage bleibt ungeklärt, es gibt dazu keine wie auch immer geartete, auch keine schriftliche Aussage des Musikers. (Zumindest wurde diese bis jetzt nicht gefunden.) Aber vielleicht war es sein absolut subjektives Empfinden wie er die musikalische Erzählung am besten zum Klingen, als Hörerlebnis erfahrbar machen könne, die ihn zu diesen Eingriffen „verführten“. Nur bei tatsächlich zeitgenössische Musik unterblieb die „Lust am Streichen“.
Im Nachlaß sind zu den Mahler-Symphonien bis auf die VIII. und das Adagio aus der X. keine eingestrichenen Partituren überliefert, um so nachzulesen, was ihn zu den Strichen bewogen haben mag.
Die Rezensionen, aus welchen Jahren auch immer, vor 1933/38 oder nach 1945 geben keinen Anhaltspunkt, keine Hinweise über Striche oder sonstige Veränderungen; nur die Tonaufnahmen belegen dies. 19)
Scherchens Interpretationsästhetik – nicht nur für die Rundfunkaufnahmen – zielte auf Deutlichkeit, Klarheit, absolut Transparenz im Klanglichen, Differenzierung der Stimmen – richtete sich gegen den „verschwommenen, süffigen, romantischen“ Wohlklang, gegen den „Hall“ der traditionellen Konzertsäle; Kompromisse für Auftritte in den traditionellen Sälen wurden durch Umstellungen des Orchesters versucht um seine Klangvorstellungen möglichst optimal umzusetzen. 20)
Anmerkungen
1)Klemm, S. 169, Lucchesi, S. 16
Scherchen in seinem Bericht aus den Jahren seiner russischen Gefangenschaft; Spiegelbild der Erfahrungen seiner täglichen Realität als Musiker, Lehrer und Überlebenskünstler in Zeiten des Mangels. Es wird zu seinem Arbeitsmotto.
2) Lucchesi, S. 154: Scherchen, Mein erstes Leben:… ich höre an einem Sonntagvormittag die III. Symphonie von Mahler ..
3) Lucchesi, S. 161f.
Oskar Fried (1871 -1941), Dirigent und Komponist
Berliner Philharmonisches Orchester
4) Scherchen war als Bratschist von 1907 - 1912 im Berliner Philharmonischen Orchester engagiert; 1918 spielt er nach der Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft wieder im Berliner Philharmonischen Orchester.
5) In: Arnold Schönberg, Briefe. Ausgew.u.hg.v.Erwin Stein. Mainz 1958, S. 44
6) Freie Deutsche Bühne, Berlin 1919/20, 1. Jg., H. 1, S. 446 ff.
Die Zeitschrift „Freie Deutsche Bühne“ gehört wie der „Sturm“, die „Aktion“ zu den vielen Zeitschriften des Expressionismus.
7) Lucchesi, S. 162.
Scherchen schrieb seine autobiographischen Aufzeichnungen um 1960. Das inhaltlich Wesentliche daran sind die Überlegungen zu den musikalischen Bausteinen Mahlers.
8) Die Wurzeln des „Expressionismus“ sind vielschichtig; Nietzsche steht am Beginn dieser Kunstepoche; die „O Mensch“ – „Schrei in die Welt“ – Attitüde, wurde wie ein Etikett dem Expressionismus „aufgeklebt“, trifft das Wesentliche – bedeutet: Revolte.
Man findet nur selten in den Schriften Scherchens konkrete Bezüge zur Kunstentwicklung seiner Zeit; dagegen finden sich in seiner Sprache viele zeittypische Ausdrucksformen, auch in privaten Äußerungen - wie z.B. Übersteigerung des Ausdrucks, bis hin zur Atemlosigkeit, Verkürzungen … Merkmale des/r (Sprache) Expressionismus.
9) Leipzig, Grotrian Steinweg-Orchester, Chorleitungen usw., mit Mahler – Vorträgen, von denen allerdings nur noch die Ankündigungen und Rezensionen vorhanden sind.
- a. Thomas Schinköth, Hermann Scherchen in Leipzig 1920 – 1930
In : Das Orchester, Nr. 7-8, 1996, S. 11
10) Winterthur:
Das Stadtorchester wurde 1875 gegründet, den Vertrag schloß Scherchen mit dem Musikkollegium Winterthur (gegr. 1629).
Die Verbindung zu Werner Reinhart und Winterthur hat Ernst Georg Wolff (1883-1962), Schweizer Komponist und Schönberg-Schüler, 1912, hergestellt. Wolff war ein Jugendfreund von Werner Reinhart; in einem Brief vom 4.4.1916 an Reinhart erzählt Wolff, daß Scherchen, der in der russischen Gefangenschaft Briefe erhalten konnte und sich selbst finanzieren mußte(!) für sein Überleben dringen 300 Mark benötige; die könnten ihm über Wien nach Wjatka geschickt werden. In einem späteren Brief berichtet Wolff auch davon, daß Scherchen komponiere und Musikunterricht erteile.
Zit. nach Lucchesi, S. 255, Anmerkung 5
Vgl. Anmerkung 19, Scherchen-Biographie
11) Th.W.Adorno, Drei Dirigenten, Musikblätter des Anbruch, Wien 1926, H. 7,
- 315ff.
Es werden drei völlig unterschiedliche Musikerpersönlichkeiten analysiert: als Rettung: Wilhelm Furtwängler, als quasi statische Darstellung: Hermann Scherchen, als visionäre Beschwörung: Anton Webern.
Adorno hatte an der Frankfurter Universität u.a.auch Musikwissenschaft studiert, und sich 1924 dem Kreis der Zweiten Wiener Schule angeschlossen.
Bekanntschaft mit Alban Berg anläßlich der UA der „Drei Bruchstücke für Gesang und Orchester aus Wozzeck“ in Frankfurt/M., 15.6.1924, Scherchen dirigierte die UA.
Das eher außermusikalische Porträt von Elias Canetti nachzulesen in:
Elias Canetti, Das Augenspiel, München, Wien, 1985, S. 49 f.
12 )Paul Stefan, eigentlich Paul Stefan Grünfeld (1879 – 1943), Musikkritiker und Musikschriftsteller,
Zit. „Musikblättern des Anbruch“, Oktober 1932, H. 8, S. 184f.
und Fragment im Nachl. HSCH Nr.391
13) Henry-Louis La Grange (1924 -, lebt in Paris), Musikwissenschaftler, Mahlerbiograph
Zit. : Bouclet TAHRA 497/498, 2003: 3. Symphonie und 10. Symphonie, Adagio, Leipzig 1960
14) Harry Goldschmidt (1910-1986), Musikwissenschaftler
In: Festschrift Goldschmidt, S. 397
15 ') Lt. Metzger, S.238
16) Lucchesi, S. 190. Frankfurt, 23.3.1923: Scherchen dirigierte die Symphonie Nr.3,
d-moll von Gustav Mahler in den Museums-Konzerten
17) Lucchesi, S. 225ff.: Die Kunst des Dirigierens
18) Der „Idomeneo“ wurde auf 1 ½ Stunden reduziert !
vgl. den Vortrag von Scherchen auf der Tagung des ITI, Berlin, 11.12.1962: Dramaturgie und Regie der Oper, publiziert in: Hermann Scherchen. Musiker. 1891-1966., s. 103f.
19 ) Einschränkend nur für Konzerte, denn bei Plattenaufnahmen ist bekannt, daß es sich dabei um technische/ökonomische Zwänge handelte
20) Scherchens ästhetische Akustikvorstellungen haben ihre Wurzeln in seiner Beschäftigung mit dem „Vater“ der Akustik, dem Physiker Joseph Sauveur (1653-1716).
In „Die Kunst des Dirigierens“ spricht sich Scherchen für eine umfassende und tiefgreifende Kenntnis der Partitur aus, die auch in aufführungspraktische Details reicht, … besitzt der Interpret eine vollkommene Technik, so ist die erste Bedingung zur Klangwerdung des vom Komponisten angestrebten Klangleibes gegeben. Er muß aber mehr sein: ein wirklicher Reproduzent des durch ihn überhaupt erst erklingenden Kunstwerkes, ein Künstler, dessen eigenschöpferische Spannweite es erlaubt, mit der Idee identisch zu werden. …
Zit. Lucchesi, S. 225 f.?