Offenbachiade chez Max Reinhardt
Aus Dagmar Saval Wünsche
Für ein Reinhardt-Symposium in Bratislava sollte ich über Max Reinhardt und seine Musiktheater-Inszenierungen, seine „musikalische Prägungen“ wie ich es nannte , erzählen. Ich habe es damals 2018 auf vier Inszenierungen reduziert; der innere Zusammenhang war so sehr evident: dreimal Offenbach und einmal Johann Strauß. Offenbach und Johann Strauß haben sich 1864 in Wien getroffen, Offenbach gab Strauß die musikalische Anregung: Warum komponieren sie nicht Operette ? – und zehn Jahre später kam die Operette aller Operetten auf die Bühne des Theater an der Wien: „Die Fledermaus“. Nichts ist so wie es scheint, wie in einer OFFENBACHIADE das ist „Die Fledermaus“.
Die Werke Offenbachs waren auf den Wiener Bühnen heimisch, auch lange noch Nestroys Tod; wenn auch nicht mehr mit der Frequenz zu seinen Lebzeiten. Die glanzvolle Wiener Erstaufführung von „Hoffmanns Erzählungen wurde verdrängt, verschüttet durch die Katastrophe des Ringtheater-Brands, stigmatisierte dieses Offenbach’sche Werk für viele Jahre. Erst im 20.Jahrhundert begannen deutschsprachige Bühnen zögernd das letzte Werk von Offenbach aufzuführen.
Max Reinhardt, 1893 im Volkstheater Rudolfsheim engagiert,war der Darsteller des Merkur in „Orpheus in der Unterwelt“, von Offenbach als Mythentravestie komponiert. Er liebte – so die Aussage seines Sohnes Gottfried – die Operetten von Jacques Offenbach. (Ich bleibe bei der Bezeichnung Operette, wie sie sich als deutschsprachige Definition für das Offenbach’sche Musiktheater eingebürgert hat).
Den in Bratislava präsentierten Text zu drei Inszenierungen von Max Reinhardt: „Orpheus in der Unterwelt“, „Die schöne Helena“ und „Hoffmann‘s Erzählungen“ von Jacques Offenbach sowie “ Die Fledermaus“ von Johann Strauß, die bei Reinhardt wie eine Offenbachiade über die Rampe kam, wollte ich zu einem feuilletonistischen Apercu erweitern; es entstand am Ende meiner Auseinandersetzung zwischen Offenbach und Reinhardt, zwischen Musik und Theater, Wort oder Ton, entstand ein neuer, veränderter Text.
Lachen, Lachen; Lachen – das war die Reinhardt’sche Intention der Offenbachiade so wie es auch Offenbach gewollt hatte – ein genußvolles Lachen, wertfrei, ungebunden – vielleicht auch Höllengelächter ? Es gab Zeitgenossen, wie Erich Mühsam, die nach dem Besuch der Münchner „Schönen Helena“, die Aufführung wie einen Zaubertrank des Lachens genossen haben.
Die Säle waren ausgebucht, der Erfolg gab Reinhardt recht, und war sehr offenbachisch – die ausgewählten Werke dem Zeitgeist entsprechend anzupassen. Einspruch: war diese umfangreiche Bearbeitung von „Hoffmanns Erzählungen“(wie sie in den Nachlaßpapieren vorliegt) in diesem Umfang gerechtfertigt? Ich komme später darauf zurück.
Der Perfektionist Reinhardt besetzte die Rollen (bis auf wenige Ausnahmen) mit Schauspielern, die singen konnten.Das ist uralte Theatertradition – wer auf der Schaubühne Furore machen wollte, der mußte ebenso gut singen und tanzen können wie sprechen.
Offenbach komponierte die Rollen seiner Operetten für Sänger, die Schauspieler - oder umgekehrt - waren, schrieb ihnen die Rollen in die Stimme, „auf den Leib“. Das trifft auch auf die unvollendet gebliebenen „Hoffmann’s Erzählungen “ zu. Reinhardt wählte sehr bewußt das Unvollkommene, das Fragmentarische der Rollengestaltung – denn „ nicht ist so wie es scheint“!
Die Kritik sah das natürlich anders, man wollte „Schöngesang“, perfekte Darstellung und begriff nicht, daß im Fragment, dem Unvollendeten, die eigentliche Perfektion verborgen ist. Dem Publikum war‘s egal, es kam zahlreich, amüsierte sich und war begeistert.
Träger und Teil dieser Erfolge war die Wahl der Protagonisten; wenn Reinhardt für die Münchner Inszenierung, 1911, der „Schönen Helena“ Fritzi Massary für die Titelrolle (alternierend mit Maria Jeritza, damals noch am Beginn ihrer Karriere) gewinnen konnte, so landete er einen „Volltreffer“.
… Sie war in reinster Ausprägung , was der ‚Herr‘ ihrer Zeit liebte und ‚die Dame‘ neidvoll verehrte … Sie sang etwas näselnd, ihre Stimme brach ab und zu weg, aber die Suggestion der Massary auf ihr Publikum war so stark, daß sie ihm war, was sie ihm sein wollte. … ihre Gabe der raffinierten Andeutung, der scharf pointierten Treffsicherheit in Ton und Geste, war ihr … Vermögen , etwas durch Verschwiegen auszudrücken, Zweideutiges durch geschickt genutzte Vieldeutigkeit eindeutig werden zu lassen. …
Otto Schneidereit, zit. nach Wolfgang Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre, S. 32
Ein kleiner Exkurs Berlin um 1890:
Die Metamorphose der Stadt: Aus einer gemütlichen, langweiligen Residenzstadt mit ehemals 880.000 Einwohnern wurde zwischen 1880 und 1914 eine Millionenmetropole. Im Osten, im Norden entstanden riesige Industrieanlagen mit rauchenden Schloten, tristen Mietskasernen, Massenquartieren für die Arbeiter. Im Westen, im Südwesten, mit der alten Mitte, dem alten Stadtkern, das war das zweite Zentrum von Berlin, hier wohnten die „Reichen und Schönen“, die Beamten, die gehobene Mittelschicht. Hier pulsierte das Geschäftsleben, die Banken und Finanzwelt. Das Kulturleben prosperierte in dem Maße wie die Stadt industriell und finanziell wuchs . Der künstlerische und gesellschaftliche Erfolg des Theatermanns Max Reinhardt war Teil dieser Prosperität, er war an ihr beteiligt.
Das Kultur- und Gesellschaftsleben: Es gab das konservative, Wilhelminische, rückwärts gewandte, militärisch dominierte Berlin mit „Garde du corps“, das „Donnerwetter –tadellos!“ - das war nicht nur der ironisch-lächelnde Titel einer Revue im Metropoltheater in der Behrensstraße. Das progressive, immer vorwärts drängende, sozial orientierte Berlin, das von Neuem und Neuerungen nie genug bekommen konnte; und bemerkenswert demokratisch – trotz Zensur und Militarismus - seinen Kunstvisionen leben konnte. Wohl weil die offizielle Kunst von „Wilhelm Zwo“ bestimmt, diese Entwicklungen und Strömungen nicht zur Kenntnis nahm, nicht zur Kenntnis nehmen wollte.
Das Publikum für das Max Reinhardt spielte: es war konservativ gemäßigt, aufgeschlossen, tolerant, aufgeklärt und im allgemeinen gut betucht. Einen beträchtlichen Anteil an diesem Publikum bildete das meist jüdische Großbürgertum wie z.B. Bankiers, Industrielle, die gehobene oft auch jüdische Mittelschicht. Die jüdische Minderheit hat sich weitgehend assimliert.
Bahnhof Friedrichstraße 1894: Reinhardt kommt in Berlin an, nur wenige Straßen entfernt von seinem zukünftigen Arbeitsplatz entfernt. Die S-Bahn ratterte mit Dampfloks betrieben an ihm vorbei, Droschken und Autos lieferten sich bereits eine heldenhaften Verdrängungswettbewerb. Er nimmt Quartier in der Friedrichstraße 134, dazu muß er über die Spree, auf der Weidendammer Brücke, vorbei an der Komischen Oper (heute zerstört).
Ganz Berlin ist eine Baustelle Straßen werden gebaut, die Gasbeleuchtung, die elektrifiziert wird, auf Brachen werden Bauten hochgezogen – der Westen der Stadt wächst mit dem Ostteil zusammen. Der Kurfürstendamm, liebevoll spöttisch berlinisch Ku-damm genannt, ist noch Baustelle. Im wesentlichen konzentrierte sich – noch – alles in „Mitte“, das war: die Dorotheenstadt ( mit vielen Kasernen, auch in unmittelbarer Nähe des Deutschen Theaters), die Luisenstadt, die Friedrichstadt und der ständig wachsende Ostteil mit seinen Fabrik- und Industrieanlagen und Mietskasernen. Die Friedrichstraße vom Oranienburgertor bis zur Leipziger Straße war die „Schlagader “ in „Mitte“, Zentrum, Flaniermeile. Hier spielte sich alles ab, das kulturelle Leben, die Theater, die Amüsiertempel , die großen Einkaufstempel, die Warenhäuser wie Tietz, Gerson, die Banken, das Zeitungsviertel, die Museumsinsel, die Hofbibliothek, heute Staatsbibliothek.
'Aus den Berliner Anfangsjahren gibt es nur wenig schriftliche Dokumente von Max Reinhardt, Briefe, Tagebuchfragmente. Sie erzählen von Theaterproblemen, Rollenstudium, wann er spielfrei hat, - und der junge Mann stürzt sich vehement und genußfreudig in das chaotische Durcheinander der Großstadt, notiert mit gelegentlicher Bissigkeit seine Beobachtungen.
Berlin um 1890 ist auch das Berlin des Hofpredigers Adolf Stoecker (1835-1909). Von der Kanzel, als Politiker macht Adolf Stoecker den modernen Antisemitismus gesellschaftsfähig. Sein Vokabular: „verjudeter “ Großkapitalismus, „verjudete Linke“ usw. Seine Programmatik: protestantisch ausgerichtet, antikapitalistisch, antiliberal, antisozialistisch, verknüpft mit einem scharfen Antisemitismus, nach Einschätzung der Historiker des 20.Jh. war es „die Politik der Gosse“, die Stoecker erfolgreich vertrat.
Reinhardt war sich seiner jüdischen Herkunft sehr bewußt, notiert wohl auch immer wieder mal „weniger gejüdelt“. Aufhorchen läßt aber die Notiz aus seinem Tagebuch, vom April 1895. Nach einer ausführlichen Analyse und Auseinandersetzung mit Rudolf Rittners Talent und Persönlichkeit (er wurde wie Reinhardt 1894 an das DT engagiert), notiert Reinhardt:
… Zwischen Ariern und Semiten besteht eine gegenseitige Assimilation, die bald einen totalen Umschwung der Verhältnisse zur Folge haben kann. Der Jude veridealisiert sich immer mehr. In allen Wissenschaften, in geistigen Fragen dominiert er u. bildet das Hauptkontigent. Er wird abstrakter u. verliert ganz den Boden des Lebens unter seinen Füßen. Immer mehr geht die unpraktische Träumerei u.Sentimentalität (des Deutschen) auf ihn über. Der Arier jedoch eignet sich immer mehr von der jüdischen Geschäftsschlauheit an und gewinnt immer mehr Fuß auf dem realen Boden des Daseins, den der Jude verläßt. Das ist praktischer, jenes idealer. …
Ich lasse dieses Zitat sehr bewußt unkommentiert stehen. Wollte ich diese vom jungen Reinhardt notierten Überlegungen zeithistorisch etc. analysieren, würde ich mein eigentliches Thema glatt verfehlen, das Zitat von 1895 „legt den Finger auf die Wunde“ der Assimiliation einer Minderheit. Reinhardt, der sich nie taufen ließ, ahnte die Problematik der – vor allem assimilierten - jüdischen Minderheit.
… Reinhardt war ein gläubiger Jude, wenn er auch nur einmal im Jahr in den Tempel ging: zum Yom Kippur. Wo immer er auch sein mochte, an diesem Tag fastete er und blieb viele Stunden lang im Tempel. …
Gusti Adler, … aber vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen. Erinnerungen an Max Reinhardt, …..S. 385
schreibt Gusti Adler in ihren Erinnerungen. Sie war seit 1919 die engste Vertraute von Max Reinhardt, befreundet mit Helene Thimig seit ihrer Kindheit. Viele Details ihrer Aufzeichnungen sind – wenn auch subjektiv verfremdet- eine unerschöpfliche Quelle auch über den Alltag des Regisseurs Max Reinhardt .
Reinhardt spielte auf seinem Bühnen für ein mittelständisches, großbürgerliches – oft jüdisches - Publikum, aber auch für ein weniger gut betuchtes, weniger gebildetes Publikum, das er – immer mit der Prätention „Volksbühne“ mit Hilfe der Besucherorganisation „Volksbühne“ erreichte. Er berichtet seinem Freund Berthold Held seine Berliner Erlebnisse, Eindrücke und am 4. Dezember 1894 schreibt er von seiner Idee „volkstümliche Aufführungen“ zum Zwecke „der Volksbildung“ zu machen:
An Berthold Held am 4. Dez.1894 aus Berlin
… Publikum, schöne Weiber u. gutes Bier. Wir haben die Absicht, den Besuch dieser Konzerte zu forcieren. Ich verstehe von Musik nicht viel, bin aber trotzdem oder vielleicht gerade darum sehr empfänglich für sie. Als Schuljunge begann ich einige Monate herumzuklimpern, konnte dem Scalenspiel jedoch keinen besonderen Geschmack abgewinnen und ließ es bald. Ich bin also in akademischer und technischer Beziehung ein Ignorant in der Musik. Aber ich habe mir jedenfalls die volle empfängliche Naivität darin bewahrt, die mir als Zuschauer im Theater naturgemäß schon öfters fehlt. Jedenfalls übt gute Musik stets eine mächtige Wirkung auf mich aus, die mich überrascht und die ich mir nicht recht erklären kann. Neue ungeahnte Stimmungen erwachen in mir. Alles erweitert sich u. ich freue u. wundere mich darüber wie ein Kind mit einem farbigen Kaleidoskop. […] ich glaube, daß volkstümliche Musikaufführungen dem Zweck der Volksbildung weit eher entsprächen als Theatervorstellungen, Bibliotheken … Musik verinnerlicht , befruchtet Seele u.Phantasie.[…]
Das Gedankenspiel von 1894 nicht nur Sprechtheater zu inszenieren, kehrt in einer Variante in einem Briefentwurf wieder, geschrieben 1931, anläßlich der Inszenierung von „Hoffmanns Erzählungen.“
[…] ich glaube, daß volkstümliche Musikaufführungen dem Zweck der Volksbildung weit eher entsprächen […]
Im Neuen Theater am Schiffbauerdamm wird eifrig probiert … ganz ungewohnte Klänge kommen aus dem kleinen Orchestergraben, der eigentlich keiner ist, es geigt, es trommelt, es flötet, Koloraturen perlen durch den Raum … Max Reinhardt bereitet mit seinen Schauspielern die Abschiedsvorstellung vor, bevor er als Direktor ein paar Straßen weiter zieht – in das Deutsche Theater , Schumannstraße 5.
„Orpheus in der Unterwelt“ von Jacques Offenbach setzt mit 49 Vorstellungen einen triumphalen Zwischenpunkt unter den furiosen Beginn seiner Karriere als Regisseur und Schauspieldirektor.
Aber „Orpheus in der Unterwelt“ - eine Operette, eine „opéra bouffe/bouffon“, so bezeichnet sie der Komponist – in einem Sprechtheater ?
Ich gehe zurück in die Anfänge des Regisseurs, in das Jahr 1893. Auf dem Spielplan des Volkstheaters in Rudolfsheim steht neben anderen Unterhaltungsstücken „Orpheus in der Unterwelt“ auf dem Spielplan.
Das Theater war Teil des Vergnügungsareals „Schwenders Colosseum“ in Rudolfsheim-Fünfhaus. Rudolfsheim war Ende des 19.Jh. ein Arbeiterviertel, mit vielen kleinen Handwerksbetrieben. ( von 1880 – 1886 wohnt die Familie in der Schönbrunnerstraße 22 = heute Äußere Mariahilferstraße 150, unweit von „Schwenders Colosseum“.) Rudolfsheim liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zu Schloß Schönbrunn und seinen ausgedehnten Gartenanlagen.
Das Vorstadttheater spielt alles was unterhält, von der Klassik bis zur Operette; 1893 stand „Orpheus in der Unterwelt“ auf dem Spielpan. Die Besetzungsliste verzeichnet für die Rolle Merkur Max Reinhardt/Goldmann. Anzunehmen, daß das Vorstadttheater keine erstklassigen Gesangskräfte engagiert hatte, sondern mit dem hauseigenen Personal , das sang und tanzte, spielte. Die Anregung Operette mit Schauspielern zu besetzen könnte Reinhardt aus eigener Erfahrung von diesem Engagement in Rudolfsheim mitgenommen haben.
Nicht unerwähnt bleiben soll, daß die Wiener Vorstadtbühnen – wie z.B. das Carltheater eine ausgeprägte Offenbachtradition hatten; der Komponist war häufiger Gast in Wien. Johann Nestroy war der erste „Offenbach-/Darsteller/ Fan“ – und da er über einen ausgebildeten Bariton verfügte, auch als Sängerdarsteller dafür prädestiniert. Soviel zu Tradition Wien und Offenbach. Die Spieltradition für die sogen. leichte Muse verlangte Sängerdarsteller – sie mußten singen, sprechen und tanzen können.
„Alles ist nur Theater“ … für den Bühnenmenschen Reinhardt gibt es keine Genregrenzen. Wie der Puppenspieler, der an allen seinen Fäden zieht um – „die Puppen tanzen zu lassen“ – oder wie der Theaterdirektor in Goethes „Faust“ greift Reinhardt nach allem, was seine Gestaltungsphantasie und seine Spiellaune aufblühen läßt – und wenn nötig, biegt er sich das Material zurecht. Doch bei der Durchsicht der Aufführungsdaten fällt eine merkwürdige Koinzidenz ins Auge: am 30. Dezember 1905 hatte in Wien, im Theater an der Wien eine Uraufführung stattgefunden, "Die lustige Witwe" von Franz Lehár und nach einem etwas zögerlichen Start trat diese "Witwe" eine bis dahin nie erlebten Siegeszug über die Operettentheaterbühnen an. Wollte der aufstrebende, erfolgsorientierte junge Theaterdirektor und Regisseur zu dieser neuen opulenten, sentimentalen Operettengattung ein Gegenmodell präsentieren ?
Wenn Gottfried Reinhardt mit seiner Behauptung recht hat, daß Reinhardt "Musik als störend nur empfunden " ( ich höre Wilhelm Busch), dann hat er diesem Imperativ alles untergeordnet, Musik ausschließlich als Spielelement seiner Inszenierungen einzusetzen, wie bei seinen Sprechtheaterinszenierungen oder später bei den Pantomimen, dann zerbricht Reinhardt die angestrebte Verschmelzung von Wort und Ton, die Musiktheater intendiert.
War "Orpheus in der Unterwelt“ – als Experiment initiiert, als eine „Offenbachiade“ mit Schauspielern besetzt, die singen, zu spielen? Er wagte den Versuch die Rollen mit Schauspielern zu besetzen, denn nach dem Textbuch, der Partitur müssen sie singen und sprechen können( das wäre der Rückgriff auf alte Spieltraditionen der Unterhaltungstheater). Ganz ging dieses Konzept nicht auf, denn allein die Rolle der Euridike (unerheblich welche Fassung Reinhardt als Spielvorlage gewählt haben mochte) verlangt einen leichten, hohen Koloratursopran in der heutigen Diktion würde man eine „Soubrette“ für die Besetzung wählen. Reinhardt mußte also - wollte er den Erfolg des Abends nicht verspielen und versingen - mit einer Sängerin besetzen, denn in seinem Ensemble gab es keine Darstellerin, die den sängerischen Anforderungen auch nur im entferntesten entsprochen hätte.
Seine Wahl fiel auf einen jungen aufstrebenden lyrischen Sopran von der Dresdner Hofoper, Eva von der Osten. Sie kam aus einer Schauspielerfamilie, kannte auch die darstellerischen Anforderungen einer Rolle. Beide sollten sich bei Uraufführung des „Rosenkavalier, 1911 in Dresden wieder begegnen. (Wie immer bei Reinhardt, die Premierenbesetzung ist nicht „langlebig“, es finden sehr bald Umbesetzungen statt.)
Ich habe in zeitgenössischen Berichten, Rezensionen geblättert: das Experiment mit Schauspielern Gesangspartien zu realisieren um eine Operette aus einem anderen Blickwinkel zu präsentieren – nicht als verkappte Spieloper - wird nicht verkannt, aber nicht unbedingt positiv gewürdigt.
„Orpheus in der Unterwelt“ ist – auch wenn der sogenannten „leichten Muse“ zugeordnet, aber nicht ist schwerer als die „leichte Muse“ – verlangt den Darstellern der Hauptpartien, von Euridike war schon die Rede, einiges an sängerischem Können ab (Orpheus, Pluto, Jupiter, Amor, Styx). Auch wenn die Darsteller Gesangsstunden genommen haben, es reichte nicht. Die sängerischen Mängel wurden von der Kritik doch als sehr störend empfunden. Die Partie des Styx verliert an Wirkung, wenn die ironische , koloraturähnliche Diktion nicht perfekt dargeboten wird. - Hans Pagay als Styx wurde dem keineswegs gerecht, so der allgemeine Tenor. Auch Alexander Moissi/Pluto, der tatsächlich über eine Singstimme verfügte, muß sich kritisieren lassen. Nur wenn Singen und Darstellen auch mit Sprechgesang zu bewältigen waren, gab es Zustimmung. Große Begeisterung dagegen für die szenische Realisierung, auch für szenische „Kniffe“. wie z.B. den Chor hinter einer Wolke im Olymp zu "verstecken", wie man auf der Abbildung , wenn auch von sehr schlechter Bildqualität sehen kann. Die Dame im Abendkleid (li.) ist Juno, rechts steht Jupiter im Frack ( er sieht ein wenig wie eine schlechte Kopie von Johann Strauß aus) und zwischen beiden Merkur als Bauernbub verkleidet!
Um es kurz zusammenzufassen: die Kritiker sind nicht wirklich einverstanden mit dem Experiment, das Publikum dagegen jubelt , was die Kritik kommentarlos bestätigt.
Die Kritik in der Vosischen Zeitung ist auch eine ausführliche Auseinandersetzung zwischen dem Oeuvre Offenbach als Operettenkomponist, wie man es anno 1906 verstand und der Inszenierung von Max Reinhardt, die zweifellos auch als Experiment gemeint war – in dem Sinn „kann ich auch Musiktheater?“
Für den Theaterhistoriker nicht unwesentlich die Hinweise auf Aussstattungs- und Inszenierungsdetails, die Reinhardt immer wieder – in Varianten, verbessert, erweitert – einsetzen wird – auffällig auch der Zug zum Pomp und Pracht, zur Übersteigerung als Ausdrucksmittel?
... Heute sehen wir in den wilden Späßen [ Offenbachs] nicht nur den Mutwillen, sondern auch eine Zug von Genialität und auch die musikalische Welt scheint geneigt, den übermütigen Hexenmeister [ Offenbach] , … der alle Taschen voll Talent hatte und mit diesem Reichtum Verschwendung trieb, anders zu werten als ehemals.
Aber gerade in dieser veränderten Stellung … lag das Verhängnis der … Neuaufführung. … Programmatisch war ein großer Ulk vorbereitet … [doch] immer wieder meldete sich ein Respekt, der mit seinen Umständlichkeiten … das natürliche rasche Tempo gefährdete … . Man hatte viele Striche aufgemacht, sodaß die Farce … die Ausdehnung einer großen Oper erhielt [vier Stunden Dauer, Anm.d.Verf.].
Der Text war neu redigiert worden … [aber] man hätte besser getan, die unverständlich gewordenen Scherze … zu beseitigen[z.B. Anspielung auf die Marokko-Konferenz, Anm.d.Verf.]. … Zum Schluß des zweiten Aktes gab es einen wilden Göttercancan, der Zug in die Unterwelt, … flutete auf einer improvisierten Brücke über das Orchester weg ins Parterre hinein… . Aber zu diesem … Übermut wollte die viel zu prächtige und komplizierte, mit ernsthafter Romantik spielende Ausstattung nicht recht stimmen. Da gab es einen Himmel mit phantastischen Wolkenlagern, in die Sterne unmittelbar hineinleuchteten, ein Plutogemach mit bizarren Bildern im Totentanzgeschmack und im Kuppelsaal des Unterwelt-Banketts ein dämonisches Schattenspiel hinter den schwarzen Gittern – malerische Cappriccios, deren dämonischer Humor einen ganz fremdartigen Rahmen zu dem rationalischen Hohn der Parodie bildete … . Alles drängt in dieser Skizze [gemeint ist die opéra bouffe von Offenbach, Anm.d. Verf.] zum einfachen, treffenden , karikaturistischen Streich, nicht zur bizarren Romantik hin, und die verlotterte Götterwelt der Offenbachiade verliert ein Gutteil ihres Charakters, wenn ihre Kostüme in allzu großer Pracht entgegenschimmern … .
Das Überwiegen des schauspielerischen Teils über den gesanglichen war vielfach unverkennbar. Ob es dem Geist der Offenbachiade entsprach, ist eine andere Frage. …
Vossische Zeitung, 14.Mai 1906, Nr.233, Zweite Beilage
„Orpheus in der Unterwelt“ so hat es Offenbach erdacht und komponiert, endet in der Unterwelt mit einem Bacchanal, mit dem „Galop infernal“ , der unerkannt als „Cancan“ durch die Literatur, die Gazetten etc. wandert. Getanzt mit Spitzenhöschen, Röcke und Beine werfen, so wie es eben die Touristen(und nicht nur diese!) vom Montmartre gerne sehen. WIE Offenbach das Finale erdacht, gespielt hatte, überliefert eine Zeichnung nach einem Gemälde von Gustave Doré.
Alle, die Solisten, der Chor tragen völlig ver- rückte Kostüme und sie feiern ein Bacchanal unter der Regie des Höllenfürsten Pluto.
Musikalisch (kurz skizziert)ist der Galop infernal im 2/4 Takt, ein rascher um-pa, umpa-Rhythmus in Achteln, im Baß in Vierteln (1/4=2 1/8) also: um-pa –gegen um= ¼ (als pochender beat), Melodik in 4 oder 8er Gruppen.
Die Inszenierung von „Orpheus in der Unterwelt“ wird Reinhardt bis Anfang der 20 Jahre immer wieder auf die Bühne bringen; in München, in Berlin, im Großen Schauspielhaus und bei Gastspielen in Dänemark und Schweden, den Bühnenverhältnissen angepaßt, in Übersetzung für die Gastspiele in Dänemark und Schweden. Grundlage ist die von ihm 1906 erarbeitete Fassung. Die im Nachlaß überlieferte notierte szenische Abfolge habe ich mit einer französischen CD-Einspielung von 1953 verglichen – es ist die gebräuchliche Spielfassung, wie sie in „Musik für alle“ für die Hausmusik gedruckt wurde .
Das Copyrigth vermerkt 1911. Die Szenenfolge, eine Kurzfassung ohne Zwischenspiele und Textteile/Rezitative?, ist vermutlich nach der Reinhardt-Aufführung entstanden. (Der Copyright-Vermerk 1911 sagt nichts über das tatsächliche Erscheinungsdatum aus.
Einar Nilson, Komponist und ein langjähriger Mitarbeiter von Max Reinhardt, von Gottfried Reinhardt auch als Reinhardts Musikmanager apostrophiert,
stellt sehr nüchtern fest, welchen Stellenwert und welche Rolle Reinhardt, der Sprechtheaterregisseur der Musik als Teil/Bestandteil eines Werkes, das er inszenierte zuordnete: Musik übernahm die Rolle des Funktionsträgers, illustriert, überhöht die Bildwirkung. Geräusche werden gleichwertig wie Musik eingesetzt.
Donnern, Heulen o..ä. erzeugt Angst und Schrecken; ein Impromptu von Franz Schubert oder Frédéric Chopin versetzt den Zuschauer in Träumerei, Verliebtheit o.ä. – vergleichbar der Programmmusik oder der Filmmusik.
Aus dieser Perspektive sei die Frage gestellt: hat Reinhardt Musik also nicht eigenständige Sprache gewertet, erkannt, was aber oder vielmehr wie stand er zum Musiktheater als Gesamtkunstwerk, war res für eine theatralische Form ?
Gottfried Reinhardt war ein bemerkenswert treuer Chronist der Arbeit seines Vaters, und wenn das folgende auch aus der Zeit der „Fledermaus“ stammt, so decouvriert es doch erbarmungslos den Umgang des Regisseurs mit einem Gesamtkunstwerk „Musiktheater“:
Der Akzent lag auf dem Schauspielerischen und das machte Änderungen in der Partitur notwendig, Melodien mußten ins Orchester verlegt werden (weil die Schauspieler den gesangstechnischen Anforderung nicht genügen konnten, z.B. Koloraturen oder andere musikalische Verzierungen singen, Melodien aber schon). Im übrigen erforderte der freie tänzerische und sprachlich-rhythmische Stil der Regie mehrere musikalische Einlagen(die nicht in der Partitur stehen)vgl. Anm. 27 Text Gottfried Reinhardt
Musiker sind von Natur aus neugieriges Publikum und es gibt einige Berichte von Besuchen der Fledermaus; übereinstimmend beschreiben sie, daß Reinhardt keine Rücksicht auf die Sänger nahm. Das bedeutet: Sänger haben ihre spezifischen vom Singen, Atmen und Musikalischen bestimmte Erfordernisse; Reinhardt nahm darauf keine Rücksicht, er allein bestimmte die Gestaltung der Bewegungsabläufe, Stellungen usw. Das dürfte nicht erst bei der „Fledermaus“ so gewesen sein – hier dominierten die Sänger die Besetzung, sondern – es bestimmte seine Grundeinstellung, und somit dürfte Gottfrieds Reinhardt Anmerkung zutreffen, wenn er schreibt: “ er nahm der Musik das Dominierende, das Störende“ – was immer man darunter verstehen mag, denn warum dann inszeniert er Musiktheater?
Gottfried Reinhardt berichtet sehr dezidiert, daß Max Reinhardt Operette, ausgenommen eben die Offenbach‘sche Operette als theatralisches wie musikalisches Genre ablehnte, aber das allein wäre als begründung nicht ausreichend für die – glaubt man den Berichten – für den etwas anderen „Umgang mit Musik“.
An einem aber besteht kein Zweifel: Reinhardt spielte genußvoll mit der „Offenbachiade“, beim „Orpheus“, bei der „Schönen Helena“.
Was ist eine Offenbachiade: Spiel im Spiel, das Spiel mit der Maske; die Inversion, denn nichts ist so wie es scheint – Umkehrung einer Realität in die Irrealität. Gepaart mit der Lust am Schaugepränge, an der Illusion … ein schwereloses, unterhaltsames Spiel, doch nie nur Unterhaltung an sich, ironische – satirische Kritik am Zeitgeschehen, an den Zeitgenossen.
In „Orpheus in der Unterwelt“ geht es um außereheliches Vergnügen aus Langeweile, Frustration; Orpheus ist ein langweiliger Konservatoriumsprofessor, der auch zu allem Überdruß auch noch komponiert und mit seinen Kompositionen Euridike, seine Frau quält, worauf sie sich anderweitig – als Revanche – vergnügen will. In der „Schönen Helena“ geht es nur noch um Sex, Liebe und Vergnügen. Musikalisch ist „Orpheus“ eher ein Pasticcio, mit musikalischen Zitaten, Anspielungen auf Volkslieder u.a. Lieder (Zitat der „Marseillaise“ beim Aufstand der Götter), Komponisten – Verstorbene wie Zeitgenossen(Meyerbeer). „ Die Schöne Helena“ hat Offenbach musikalisch „befreit“, er hat an musikalischer Ausdruckskraft gewonnen (das soll genügen, alle weiteren Details findet man in der einschlägigen Literatur). Anders als im Orpheus – die Verführung setzt die Handlung erst in Gang – ist in der „Schönen Helena“ die Verführungszene , d.i, die Traumszene – „Es ist ein Traum …“ der Höhepunkt und Drehpunkt der Handlung.
War es diese veränderte dramaturgische Situation, die Reinhardts Entscheidung zur Inszenierung der „Helena“ für die Sommerfestspiele in München 1911 bestimmte?
F'ortsetzung folgt'