Offenbachiade chez Max Reinhardt: Unterschied zwischen den Versionen
Aus Dagmar Saval Wünsche
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− | '' | + | ===''Offenbachiade ? chez Max Reinhardt''=== |
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− | + | Max Reinhardt in Schloß Leopoldskron, Salzburg, während der Salzburger Festspiele um 1925. Die "Schloß-Inszenierung" - einsamer Höhepunkt seiner Regieträume | |
− | + | : '''<span style="color: #0000ff;">''... Reinhardt lehnt über die Balustrade und lacht, ''</span><span style="color: #0000ff;">''er möchte zu gern einmal bei sich zu Gast geladen sein. ...''</span>''' | |
+ | : zit. nach: "Weißtdunoch-Verse" von Ruth Landshoff-Yorck, Klatsch, Ruhm und kleine Feuer. Biographische Impressionen, S.230 | ||
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+ | Für ein Max-Reinhardt-Symposium in Bratislava sollte ich über "Max Reinhardt und seine Musiktheater-Inszenierungen" vortragen, seine „musikalische Prägungen“ wie ich es nannte, mit einer tour d'horizon in knapp 20 Minuten einem sehr gemischten Publikum nahebringen. Ich habe mich 2018 für vier ausgewählte Inszenierungen entschieden, deren innerer Zusammenhang unüberhörbar. Jacques Offenbach und Johann Strauß Sohn, beide "einsame" Meister der Operette, des "Vergnügenszuges" (Johann Strauß). 1864 trafen sichJacques Offenbach und Johann Strauß in Wien ; und - so wird berichtet -, sich sofort ausgezeichnet verstanden. Im gemeinsamen, sehr musikalischen Gespräch, meinte Offenbach ganz spontan: "Monsieur Strauß, warum komponieren Sie nicht Operette ?" Zehn Jahre später kam die Operette aller Operetten auf die Bühne des Theaters an der Wien: „Die Fledermaus“. Nichts ist so wie es scheint, wie in einer OFFENBACHIADE läuft das Räderwerk der "Fledermaus“. | ||
− | + | Die Werke Offenbachs waren in der zweiten Hälfte des 19.Jh. auf den Wiener Bühnen sehr präsent; der theatralische Motor des Wiener "Offenbachfiebers" war Johann Nestroy, Sänger, Schauspieler und Textautor. | |
− | + | Dann, 1881, eine glanzvolle Wiener Erstaufführung von „Hoffmanns Erzählungen"; eine erfolgversprechende Aufführungsserie wurde jäh, schon nach der zweiten Aufführung unterbrochen: es kam zu einem - damals immer sehr gefürchteten Theaterbrand - , eingegangen in die Geschichte als "Ringtheaterbrand vom 8.Dezember 1881". Dieses Ereignis "stigmatisierte" die Oper für Jahrzehnte, vor allem im deutschen Sprachraum. | |
− | + | Eines Tages habe ich meinen alten Text von 2018 wieder gelesen, fand ihn etwas "kurzatmig"; es folgte eine neue, etwas erweiterte Auseinandersetzung (damit ist das Thema noch lange nicht ausgeschöpft) mit den drei Inszenierungen von Max Reinhardt: „'''Orpheus in der Unterwelt'''“, „'''Die schöne Helena'''“ und „'''Hoffmann‘s Erzählungen'''“ von Jacques Offenbach. | |
− | + | der Wie aber kommt Offenbach zu Reinhardt oder wie kommt Reinhardt zu Offenbach ? – diese Frage war mein ständiger Begleiter; daß Reinhardt 1893 in einer Vorstadtinszenierung den Merkur spielte, genügte mir nicht als "Verführung zu Offenbach", auch nicht das Wissen um die Wiener Offenbach-Tradition. War es vielleicht Arthur Kahane, Reinhardts langjähriger Freund und Wegbegleiter, der "theatralisch-visionäre Rebelle"gegen den Trend der Zeit als Dramaturg des Deutschen Theaters von 1905 - 1932 ? | |
− | '' | + | '''Arthur Kahane ''' schreibt im Programmbuch zur Aufführung von "Orpheus in der Unterwelt" 1922 : „ Phantasie über OFFENBACH als Vorwort“ für die Inszenierung im Großen Schauspielhaus, Berlin. Für diese Inszenierung hat Arthur Kahane gemeinsam mit Max Run die Neufassung des Textes übernommen. |
− | + | Das Vorwort, eine einzige Liebeserklärung an den liebevollen Spötter Jacques Offenbach: | |
− | '' | + | : '''<span style="color: #0000ff;">''… Und so ist Offenbach‘s Schönheit … ''eine beauté du diable''. Seine Musik ist – … Lockung, Einladung und Verführung zur Sünde. Zu einer Sünde, die so charmant, so reizvoll, so melodisch, so amüsant ist, daß keine Tugend der Welt die Konkurrenz mit ihr aufnehmen kann. Gewiß, der unerbittlich Spöttische macht sich auch über das Laster lustig, deckt seine Schwächen, seine Eitelkeiten, seine Lächerlichkeiten auf, aber wie über etwas, das man von Herzen liebt. Antipathisch ist es ihm auf keinen Fall. Er kennt es. Kennt seinen Geschmack , seine Freuden, seine Lebensformen, seine Gewohnheiten, wie man sich selber kennt, trifft seinen Rhythmus so täuschend, mit so verliebter Geschicklichkeit, daß schießlich Offenbachs Rhythmus vom Rhythmus der Sünde kaum zu unterscheiden ist. Fast möchte man glauben, die Sünde bewegt sich, tanzt und liebt im Offenbach’schen Cancan-Tempo. … Nichts ist schwerer als das Leichte. Unerschöpflichkeit der Erfindung und des Einfalls vorausgesetzt; aber jedes seiner größeren Werke ist technisch, rhythmisch, melodisch, harmonisch eine geschlossene Einheit, zeigt eine neue Form, ein eigenes Gesicht. … Das einmalig Offenbachische steckt im Text ebenso wie in der Musik. Mögen die Namen Crémieux, Meilhac, Halévy, Nuitter auf den Titelblättern stehen, der wahre Dichter dieser unvergänglich entzückenden Gaminierien ist Offenbach’s Musik. „Gesamtkunstwerk“ sagt man in dem gründlicher programmatischen Deutschland. Nur daß es hier erreicht ist. … ''</span>''' |
+ | Zur Überlieferung der Textbearbeitungen in der Vergangenheit meint Kahane: | ||
− | ''… | + | : '''<span style="color: #0000ff;">''… Das Kostüm (damit meint Kahane den Text, Anm.d.Verf.) muß von Zeit zu Zeit erneuert werden, das heißt: die Übersetzung, die eine nicht immer stilsichere Operettenroutine dem Werk umgehängt hat. Das Offenbach’sche Werk bedingt einen Publikumskontakt, der sich nur durch das zeitgemäß aufgefrischte Spiel mit der Aktualität erzielen läßt, … . ''</span>''' |
+ | Mit dem Hinweis auf den Publikumskontakt trifft Kahane in das Herz des Reinhardt’schen Theaterkonzepts; vielleicht war diese Idee das auslösende und verführende Movens für den Theatermann und Bühnenmenschen Max Reinhardt sich mit dem Offenbach’schen Oeuvre auseinander zu setzen? Und: Lachen, Lachen; Lachen – ein genußvolles Lachen, wertfrei, ungebunden – vielleicht auch Höllengelächter ? das war es, was Offenbach für sein Publikum wollte und Reinhardt, wenn er Offenbach inszenierte, ebenso. Viele Zeitgenossen Reinhardts genossen diesen Zaubertrank des Lachens, wie z. B. Erich Mühsam. | ||
− | + | Die Säle waren ausgebucht, der Erfolg gab Reinhardt recht, die ausgewählten Werke, die Texte vor allem wurden dem Zeitgeist entsprechend modifiziert oder völlig neu formuliert.. Einspruch: war diese umfangreiche Bearbeitung von „Hoffmanns Erzählungen“(wie sie in den Nachlaßpapieren vorliegt, von den Rezensenten sehr kontrovers rezipiert wird) in diesem Umfang gerechtfertigt? Ich komme später darauf zurück. | |
− | + | Mit der Besetzung der Rollen mit Schauspielern, die singen und tanzen mußten, griff Reinhardt eigentlich nur eine uralte Theatertradition erneut auf; Wer auf der Schaubühne (bis in das 19.Jh. ) Furore machen wollte, der mußte ebenso gut singen, tanzen wie sprechen können. | |
− | + | Offenbach ( er ist keineswegs eine Einzelerscheinung) komponierte die Rollen seiner Operetten für Sänger, die Schauspieler - oder umgekehrt - waren, schrieb ihnen die Rollen in die Stimme, „auf den Leib“. Das trifft auch auf die unvollendet gebliebenen „'''Hoffmann’s Erzählungen''' “ zu. | |
− | Die | + | Die meisten zeitgenössischen Kritiker sahen das natürlich anders, man wollte „Schöngesang“, perfekte Darstellung und begriff nicht, daß im Fragment, dem Unvollendeten, die eigentliche Perfektion verborgen ist. Dem Publikum war‘s egal, es kam zahlreich, amüsierte sich und war begeistert. |
− | + | Träger und Teil dieser Erfolge war die Wahl der Protagonisten; wenn Reinhardt für die Münchner Inszenierung, 1911, der „Schönen Helena“ Fritzi Massary für die Titelrolle (alternierend mit Maria Jeritza, damals noch am Beginn ihrer Karriere) gewinnen konnte, so landete er einen „Volltreffer“. | |
− | + | : '' '''''<span style="color: #0000ff;">''… Sie war in reinster Ausprägung , was der ‚Herr‘ ihrer Zeit liebte und ‚die Dame‘ neidvoll verehrte … Sie sang etwas näselnd, ihre Stimme brach ab und zu weg, aber die Suggestion der Massary auf ihr Publikum war so stark, daß sie ihm war, was sie ihm sein wollte. … ihre Gabe der raffinierten Andeutung, der scharf pointierten Treffsicherheit in Ton und Geste, war ihr … Vermögen , etwas durch Verschweigen auszudrücken, Zweideutiges durch geschickt genutzte ''</span>''' | |
+ | : [[Datei:jansen_0002.jpg|thumb|right|180px]] | ||
+ | : '''<span style="color: #0000ff;">''Vieldeutigkeit eindeutig werden zu lassen. …''</span>''' | ||
+ | : Otto Schneidereit, zit. nach Wolfgang Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre, S. 32 | ||
+ | : <span style="color: #800000;">Fritzi Massary, Berlin um 1910 </span> '' '' | ||
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+ | =====Berlin um 1890===== | ||
+ | Max Reinhardt kam 1894 in eine Stadt, die im Begriff war sich einer gewaltigen Metamorphose zu unterziehen. Aus einer gemütlichen, langweiligen Residenzstadt mit ehemals 880.000 Einwohnern wurde zwischen 1880 und 1914 eine Millionenmetropole. Im Osten, im Norden entstanden riesige Industrieanlagen mit rauchenden Schloten, tristen Mietskasernen, Massenquartieren für die Arbeiter. Im Zentrum, in "Mitte", dem alten Stadtkern, pulsierte das Leben, lag das Zeitungs- und Bankenviertel, viele Kasernen und vom Schloß paradierten die Truppen Wilhelms II. die "Linden lang" über den Kaiserdamm, die Heerstraße - von Berlin-Mitte nach Potsdam. | ||
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− | + | [[Datei:kaffee_könig2Scan_0002.jpg|thumb|right|285x179px]] | |
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− | + | <span style="color: #800000;">Friedrichstraße /Unter den Linden, mit dem Kaffee König, um 1900</span> | |
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− | + | Im Westen, im Südwesten der Stadt entstand ein "zweites Zentrum" rund um den Ku(fürsten)damm. Hier wohnten die „Reichen und Schönen“, die Beamten, die gehobene Mittelschicht. | |
− | + | Das Kulturleben prosperierte in dem Maße wie die Stadt industriell und finanziell wuchs . Der künstlerische und gesellschaftliche Erfolg des Theatermanns Max Reinhardt war Teil dieser Prosperität, er war an ihr beteiligt. | |
− | + | [[Datei:frau_lunaScan_0002.jpg|thumb|right|290x198px]] | |
− | + | <span style="color: #800000;">"Frau Luna", Operette von Paul Lincke, Schlußbild. Uraufführung, Berlin, Apollo-</span> | |
+ | <span style="color: #800000;">Theater, ein Serienerfolg, </span><span style="color: #800000;">2.Mai 1899</span> | ||
− | + | <span style="color: #800000;">Das Szenario basiert auf "Le Voyage à la lune"/"Die Reise auf dem den Mond " von Jacques Offenbach, UA Paris 26.Okt.1875</span> | |
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− | + | Das Kultur- und Gesellschaftsleben hatte zwei Gesichter, war janusköpfig. | |
− | + | Es gab das konservative, Wilhelminische, rückwärts gewandte, militärisch dominierte Berlin mit „Garde du corps“, das „Donnerwetter –tadellos!“ - das war nicht nur der ironisch-lächelnde Titel einer Revue im Metropol-Theater in der Behrensstraße. | |
− | + | Das progressive, immer vorwärts drängende, sozial orientierte und engagierte Berlin, das von Neuem und Neuerungen nie genug bekommen konnte, und bemerkenswert demokratisch – trotz Zensur und Militarismus - seine Kunstvisionen leben konnte. Wohl weil die offizielle Kunst von „Wilhelm Zwo“ bestimmt, diese Entwicklungen und Strömungen nicht zur Kenntnis nahm, nicht zur Kenntnis nehmen wollte. | |
− | + | Ganz Berlin ist eine Baustelle. Straßen werden gebaut, die Gasbeleuchtung, die elektrifiziert wird, auf Brachen werden Bauten hochgezogen – der Westen der Stadt wächst mit dem Ostteil zusammen. Der Kurfürstendamm, liebevoll spöttisch berlinisch Ku-damm genannt, ist noch Baustelle. Im wesentlichen konzentrierte sich – noch – alles in „Mitte“, das war: die Dorotheenstadt ( mit vielen Kasernen, auch in unmittelbarer Nähe des Deutschen Theaters), die Luisenstadt, die Friedrichstadt und der ständig wachsende Ostteil mit seinen Fabrik- und Industrieanlagen und Mietskasernen. Die Friedrichstraße vom Oranienburgertor bis zur Leipziger Straße war die „Schlagader “ in „Mitte“, Zentrum, Flaniermeile. Hier spielte sich alles ab, das kulturelle Leben, die Theater, die Amüsiertempel , die großen Einkaufstempel, die Warenhäuser wie Tietz, Gerson, die Banken, das Zeitungsviertel, die Museumsinsel, in lebendiger Konkurrenz zu "den Linden" mit der Hofoper (heute Staatsoper) Unter den Linden, dem Zeughaus (heute Historisches Museum(, die Neue Wache, die Hofbibliothek (heute Staatsbibliothek). | |
− | + | [[Datei:chatnoirScan_0001.jpg|thumb|right|317x224px]] | |
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− | + | <span style="color: #800000;">"Chat Noir", ein beliebtes Nachtlokal in der Friedrichstraße, Berlin-Mitte, um 1900</span> | |
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− | + | [[Datei:nachtasylkrausestr.jpg|thumb|right|311x202px]] | |
− | + | <span style="color: #800000;">Café Nachtasyl, in der Krausestraße, Berlin-Mitte, um 1900 </span> | |
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− | + | Aus den Berliner Anfangsjahren gibt es nur wenig schriftliche Dokumente von Max Reinhardt ( Briefe<span style="font-size: 0.939em;">, </span>Tagebuchfragmente). Sie erzählen von Theaterproblemen, Rollenstudium, wann er spielfrei hat; der junge Mann stürzt sich vehement und genußfreudig in das chaotische Durcheinander der Großstadt, notiert mit gelegentlicher Bissigkeit seine Beobachtungen. | |
− | + | Berlin um 1890 ist auch das Berlin des Hofpredigers Adolf Stoecker (1835-1909). Von der Kanzel, als Politiker macht Adolf Stoecker den modernen Antisemitismus gesellschaftsfähig. Sein Vokabular: „verjudeter “ Großkapitalismus, „verjudete Linke“ usw. Seine Programmatik: protestantisch ausgerichtet, antikapitalistisch, antiliberal, antisozialistisch, verknüpft mit einem scharfen Antisemitismus, nach | |
− | + | Einschätzung der Historiker des 20.Jh. war es „die Politik der Gosse“, die Stoecker erfolgreich vertrat. | |
− | + | Bleibt die offene Frage, welchen antisemitischen Anfeindungen Max Reinhardt seit seinen Anfängen in Berlin ausgesetzt war - die Angriffe aus der Jahren des ausbrechenden Nationalsozialismus sind bekannt, aber was davor ? | |
− | + | Reinhardt war sich seiner jüdischen Herkunft sehr bewußt, notiert wohl auch immer wieder mal (in seinem Tagebuch) „weniger gejüdelt“. Aufhorchen läßt aber die Notiz aus seinem Tagebuch, vom April 1895. Nach einer ausführlichen Analyse und Auseinandersetzung mit Rudolf Rittners Talent und Persönlichkeit als Darsteller (er wurde wie Reinhardt 1894 an das Deutsche Theater engagiert), notiert Reinhardt: | |
− | + | : '''<span style="color: #0000ff;">''… Zwischen Ariern und Semiten besteht eine gegenseitige Assimilation, die bald einen totalen Umschwung der Verhältnisse zur Folge haben kann. Der Jude veridealisiert sich immer mehr. In allen Wissenschaften, in geistigen Fragen dominiert er u. bildet das Hauptkontigent. Er wird abstrakter u. verliert ganz den Boden des Lebens unter seinen Füßen. Immer mehr geht die unpraktische Träumerei u.Sentimentalität (des Deutschen) auf ihn über. Der Arier jedoch eignet sich immer mehr von der jüdischen Geschäftsschlauheit an und gewinnt immer mehr Fuß auf dem realen Boden des Daseins, den der Jude verläßt. Das ist praktischer, jenes idealer. … ''</span>''' | |
+ | Ich Iasse dieses Zitat sehr bewußt unkommentiert stehen. Wollte ich diese vom jungen Reinhardt notierten Überlegungen zeithistorisch etc. analysieren, würde ich mein eigentliches Thema glatt verfehlen; das Zitat von 1895 „legt den Finger auf die Wunde“ der Assimiliation einer Minderheit. Reinhardt, der sich nie taufen ließ, ahnte die Problematik der – vor allem assimilierten - jüdischen Minderheit. | ||
− | + | : '''<span style="color: #0000ff;">''… Reinhardt war ein gläubiger Jude, wenn er auch nur einmal im Jahr in den Tempel ging: zum Yom Kippur. Wo immer er auch sein mochte, an diesem Tag fastete er und blieb viele Stunden lang im Tempel. …''</span>''' | |
+ | : schreibt Gusti Adler, in … aber vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen. Erinnerungen an Max Reinhardt, …..S. 385 | ||
+ | : Gusti Adler war seit 1919 die engste Vertraute von Max Reinhardt, befreundet seit Kindertagen mit Helene Thimig - Reinhardt, Max Reinhardt's zweiter Frau. Viele Details ihrer Aufzeichnungen sind – wenn auch mitunter sehr subjektiv - eine unerschöpfliche Quelle, auch über den Alltag des Regisseurs Max Reinhardt . | ||
+ | : Reinhardt spielte auf seinem Bühnen für ein mittelständisches, großbürgerliches – oft jüdisches - Publikum, aber auch für ein weniger gut betuchtes, weniger gebildetes Publikum, das er – immer mit der Prätention „Volksbühne“ mit Hilfe der Besucherorganisation „Volksbühne“ erreichte. | ||
+ | : '''<span style="color: #0000ff;">''„Die Beziehungen Reinhardts zur Volksbühne reichten bis in seine eigenen direktorialen Anfänge zurück … Vor allem war es das Neue Theater unter der Führung des jungen Max Reinhardt, das von der Volksbühne bevorzugt wurde. Gleichzeitig mit dem Pachtvertrag hatte der Vorstand die damals leitenden Köpfe der Reinhardt-Betriebe, Max Reinhardt und dessen Mitarbeiter Felix Hollaender, in den Künstlerischen Ausschuß der Volksbühne aufgenommen. Die Volksbühnenbewegung …. hatte sich am Beginn des neuen Jahrhunderts zu dessen(Max Reinhardtbühne) Kapitalzubringer gewandelt. …. Dem jungen Direktor Max Reinhardt konnte der auf Pachtvorstellungen bedachte Geschäftsbetrieb der Neuen Freien Volksbühne nur angenehm sein. Zu den Abendvorstellungen im Neuen Theater gesellten sich jetzt für ihn ertragreiche Nachmittagsvorstellungen. … ''</span>''''''<span style="color: #0000ff;">''Als Reinhardt das Deutsche Theater übernahm, begleitete ihn die Neue Freie Volksbühne. ''</span>''''''<span style="color: #0000ff;">''Der starke Mann der Volksbühne … und nunmehriger Kassierer, Heinrich Neft, boxte den zweiten Vertrag mit Reinhardt gegen die Bedenken der Mitglieder durch ….''</span>''' | ||
+ | : '''<span style="color: #0000ff;">''Die Verbindung mit Reinhardt wurde zu einer andauernden. Als die Volksbühne 1915 das Risiko für das eben erst am Bülowplatz eröffnete große Haus nicht mehr tragen wollte, übergab sie es für die drei Spielzeiten 1915/16 – 1917/1918 ... pachtweise an Max Reinhardt . ... Zu kostenloser Pacht…''</span>''' | ||
+ | : Heinrich Braulich, Max Reinhardt, Theater zwischen Traum und Wirklichkeit, S. 154 ff. | ||
+ | : Reinhardt berichtet dem Freund Berthold Held seine Berliner Erlebnisse, Eindrücke und am 4. Dezember 1894 schreibt er von seiner Idee „volkstümliche Aufführungen“ zum Zwecke „der Volksbildung“ zu machen: | ||
+ | : An Berthold Held am 4. Dez.1894 aus Berlin | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''… Publikum, schöne Weiber u. gutes Bier. Wir haben die Absicht, den Besuch dieser Konzerte zu forcieren. Ich verstehe von Musik nicht viel, bin aber trotzdem oder vielleicht gerade darum sehr empfänglich für sie. Als Schuljunge begann ich einige Monate herumzuklimpern, konnte dem Scalenspiel jedoch keinen besonderen Geschmack abgewinnen und ließ es bald. Ich bin also in akademischer und technischer Beziehung ein Ignorant in der Musik. Aber ich habe mir jedenfalls die volle empfängliche Naivität darin bewahrt, die mir als Zuschauer im Theater naturgemäß schon öfters fehlt. Jedenfalls übt gute Musik stets eine mächtige Wirkung auf mich aus, die mich überrascht und die ich mir nicht recht erklären kann. Neue ungeahnte Stimmungen erwachen in mir. Alles erweitert sich u. ich freue u. wundere mich darüber wie ein Kind mit einem farbigen Kaleidoskop. […] ich glaube, daß volkstümliche Musikaufführungen dem Zweck der Volksbildung weit eher entsprächen als Theatervorstellungen, Bibliotheken … Musik verinnerlicht , befruchtet Seele u.Phantasie."'''''</span> | ||
+ | : Das Gedankenspiel von 1894 nicht nur Sprechtheater zu inszenieren, kehrt in einer Variante in einem Briefentwurf wieder, geschrieben 1931, anläßlich der Inszenierung von „Hoffmanns Erzählungen.“ | ||
+ | : '' <span style="color: #0000ff;">'''… ich glaube, daß volkstümliche Musikaufführungen dem Zweck der Volksbildung weit eher entsprächen …'''</span>'' | ||
+ | ====<span style="color: #000000;">"Orpheus in der Unterwelt"</span>==== | ||
+ | <span style="color: #000000;">[[Datei:orlikgusti_adlerScan_0003.jpg|thumb|right|180px]]</span> | ||
+ | : Im '''Neuen Theater am Schiffbauerdamm''' wird eifrig probiert … ganz ungewohnte Klänge kommen aus dem kleinen Orchestergraben, der eigentlich keiner ist, es geigt, es trommelt, es flötet, Koloraturen perlen durch den Raum … Max Reinhardt bereitet mit seinen Schauspielern die Abschiedsvorstellung vor, bevor er als Direktor ein paar Straßen weiter zieht – in das Deutsche Theater , Schumannstraße 5. | ||
+ | : <span style="color: #800000;">Umschlagbild (Ausschnitt) für das Programmheft, Berlin Neues Theater. Entwurf: Emil Orlik</span> | ||
+ | : „'''Orpheus in der Unterwelt'''“ von Jacques Offenbach setzt mit 49 Vorstellungen einen triumphalen Zwischenpunkt unter den furiosen Beginn seiner Karriere als Regisseur und Schauspieldirektor. Aber „Orpheus in der Unterwelt“ - eine Operette, eine „opéra bouffe/bouffon“, eine Mythentravestie, so bezeichnet sie der Komponist – in einem Sprechtheater ? | ||
+ | : Ich gehe zurück in die Anfänge des Regisseurs, in das Jahr 1893. Reinhardt tritt sein erstes professionelles Engagement an, im Volkstheater Rudolfsheim. Das Theater war Teil des Vergnügungsareals „Schwenders Colosseum“, ein sehr beliebter Vergnügungspark in Rudolfsheim-Fünfhaus in der Wiener Vorstadt. Rudolfsheim war Ende des 19.Jh. ein Arbeiterviertel sowie zahlreichen kleinen Handwerksbetrieben. | ||
+ | : Von 1880 – 1886 wohnte die Familie Reinhardt in Rudolfsheim, in der Schönbrunnerstraße 22 , d.i. heute Äußere Mariahilferstraße 150, - unweit von „Schwenders Colosseum“. In "schwenders Colosseum" wurde dem Besucher von der Spielhalle bis zum Tanzparkett, der Bierhalle bis zum Theater jede nur denkbare Unterhaltung geboten. Wollte er sich im Grünen entspannen, dann hatte er es nicht weit zu der weitläufigen Parklandschaft rund um das Schloß Schönbrunn. (Die heutige Parkanlage ist nur noch das "Herzstück" der ursprünglichen Anlagen. | ||
+ | : Das Vorstadttheater Rudolfsheim spielte alles, was unterhält, von der Klassik bis zur Operette; 1893 stand „'''Orpheus in der''' '''Unterwelt“''' auf dem Spielplan. Die Besetzungsliste verzeichnet für die Rolle Merkur - Max Reinhardt/Goldmann. Anzunehmen, daß das Vorstadttheater keine erstklassigen Gesangskräfte engagiert hatte, sondern mit dem hauseigenen Personal besetzt hatte, das sang, tanzte, spielte. Die Anregung Operette mit Schauspielern zu besetzen könnte Reinhardt aus dieser eigenen Erfahrung von diesem Engagement in Rudolfsheim mitgenommen haben. | ||
+ | : [[Datei:merkur.jpg|thumb|right|194x259px]] | ||
+ | : <span style="color: #800000;">"Orpheus in der Unterwelt", Jacques Offenbach. Max Reinhardt in der Rolle des Merkur</span> | ||
+ | : <span style="color: #800000;">Wien, Vergnügungspark Schwender: Volkstheater Rudolfsheim , undatierter Programmzettel</span> | ||
+ | : „Alles ist nur Theater“ … für den Bühnenmenschen Reinhardt gibt es keine Genregrenzen. Wie der Puppenspieler, der an allen seinen Fäden zieht um – „die Puppen tanzen zu lassen“ – oder wie der Theaterdirektor in Goethes „Faust“ - greift Reinhardt nach allem, was seine Gestaltungsphantasie und seine Spiellaune aufblühen läßt – und wenn nötig, biegt er sich das Material zurecht. Doch bei der Durchsicht der Aufführungsdaten fällt eine merkwürdige Koinzidenz ins Auge: am 30. Dezember 1905 hatte in Wien, im Theater an der Wien eine Uraufführung stattgefunden, "Die lustige Witwe" von Franz Lehár und nach einem etwas zögerlichen Start trat diese "Witwe" eine bis dahin nie erlebten Siegeszug über die Operettentheaterbühnen an. Wollte der aufstrebende, erfolgsorientierte junge Theaterdirektor und Regisseur zu dieser neuen opulenten, sentimentalen Operettengattung ein Gegenmodell präsentieren ? | ||
+ | : Wenn Gottfried Reinhardt mit seiner Behauptung recht hat, daß Reinhardt "Musik als störend nur empfunden " ( ich höre Wilhelm Busch), dann hat er diesem Imperativ alles untergeordnet, Musik ausschließlich als Spielelement seiner Inszenierungen einzusetzen, wie bei seinen Sprechtheaterinszenierungen oder später bei den Pantomimen, dann zerbricht Reinhardt die angestrebte Verschmelzung von Wort und Ton, die Musiktheater intendiert. War "'''Orpheus in der Unterwelt'''“ – als Experiment initiiert, als eine „Offenbachiade“ mit Schauspielern besetzt, die singen, zu spielen? Er wagte den Versuch, die Rollen mit Schauspielern zu besetzen, so wie es das Libretto und die Komposition/Partitur als möglich erscheinen lassen. Die Behauptung von Gottfried Reinhardt - Musik als Störfaktor des theatralischen Geschehens - ist wohl eine sehr eigenwillige Interpretation, denn Reinhardt setzt - wo und wann immer es möglich ist - Musik ein. | ||
+ | : Zurück zu "Orpheus in der Unterwelt" im Neuen Theater 1906. Ganz ging dieses Konzept nicht auf. Die Rolle der Euridike verlangt einen leichten, hohen Koloratursopran (nicht einmal nach heutiger Definition würde man eine „Soubrette“ für die Besetzung wählen). Reinhardt mußte also - wollte er den Erfolg des Abends nicht verspielen und versingen - mit einer Sängerin besetzen; in seinem Ensemble gab es keine Darstellerin, die den sängerischen Anforderungen auch nur im entferntesten entsprochen hätte. | ||
+ | : Seine Wahl fiel auf einen jungen aufstrebenden lyrischen Sopran von der Dresdner Hofoper, Eva von der Osten. Sie kam aus einer Schauspielerfamilie, kannte die darstellerischen Anforderungen einer Rolle. Beide, Sängerin und Regisseur, sollten sich bei Uraufführung des „Rosenkavalier", 1911 in Dresden wieder begegnen. | ||
+ | : Ich habe in zeitgenössischen Berichten, Rezensionen geblättert: das Experiment mit Schauspielern Gesangspartien zu realisieren um eine Operette aus einem anderen Blickwinkel zu präsentieren – und nicht als "verkappte und verkleidete" Spieloper - wird nicht verkannt, aber nicht unbedingt positiv gewürdigt. | ||
+ | : [[Datei:orpheus.jpg|thumb|right|292x201px]] | ||
+ | : <span style="color: #800000;">"Orpheus in der Unterwelt", Skizze von Ernst Stern , 1.Bild. </span> | ||
+ | : <span style="color: #800000;">aus: Ernst Stern, Bühnenbildner bei Max Reinhardt, S.32</span> | ||
+ | : „'''Orpheus in der Unterwelt'''“ verlangt den Darstellern der Hauptpartien, von Euridike war schon die Rede, einiges an sängerischem Können ab (Orpheus, Pluto, Jupiter, Amor, Styx). Auch wenn die Darsteller Gesangsstunden genommen haben, es reichte nicht. Die sängerischen Mängel wurden von der Kritik doch als sehr störend empfunden. Die Partie des Styx verliert an Wirkung, wenn die ironische , koloraturähnliche Diktion nicht perfekt dargeboten wird. Hans Pagay als Styx wurde dem keineswegs gerecht, so der allgemeine Tenor. Auch Alexander Moissi/Pluto, der tatsächlich über eine Singstimme verfügte, muß sich kritisieren lassen. Nur wenn Singen und Darstellen auch mit Sprechgesang rollendeckend zu bewältigen waren, gab es Zustimmung. Große Begeisterung dagegen für die szenische Realisierung, auch für szenische „Kniffe“, wie z.B. den Chor hinter einer Wolke im Olymp zu "verstecken", (s. die Abbildung. Die Dame im Abendkleid links ist Die Öffentliche Meinung, rechts steht Pluto/Aristeus im Frack (er sieht ein wenig aus wie eine schlechte Kopie von Johann Strauß) und zwischen beiden Orpheus?/Merkur? als Bauernjunge ? verkleidet! | ||
+ | : [[Datei:1orpheus.jpg|thumb|right|295x193px]] <span style="color: #800000;">"Orpheus in der Unterwelt", Neues Theater, 13.Mai 1906</span> | ||
+ | : <span style="color: #800000;">2. Bild: Im Olymp</span> | ||
+ | : <span style="color: #800000;">aus: Hugo Fetting, Max Reinhardt, Schriften. Berlin 1974, vor S. 65 sowie Boeser/Vatkova, Max Reinhardt in Berlin, Berlin 1996</span> | ||
+ | : <span style="color: #800000;">Bildbeschreibung bei Fetting: die Rolle des Ganymed(li. Oskar Sabo lt. Bildangabe) wird in der erweiterten Bearbeitung von 1922 für das Große Schauspielhaus genannt, u.zw. nur im Programmbuch; die nähere Rollenbezeichnung: Pikkolo</span> | ||
+ | : Die Kritiker mäkeln, das Publikum jubelt, strömt in die Vorstellung. | ||
+ | : Die Kritik in der "Vossischen Zeitung " ist auch eine ausführliche Auseinandersetzung zwischen dem Oeuvre Offenbachs als Operettenkomponist, wie man es anno 1906 verstand und der Inszenierung von Max Reinhardt, die als Experiment erkannt – in dem Sinn „kann ich auch Musiktheater?“ | ||
+ | : [[Datei:gusti_adlerScan_0003.jpg|thumb|right|325x273px]] <span style="color: #800000;">"Orpheus in der Unterwelt", Neues Theater, 13.Mai 1906. Bühnenentwurf von Ernst Stern für das Schlafgemach der Götter auf dem Olymp</span> | ||
+ | : <span style="color: #800000;">aus: Gusti Adler, ... aber vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen. Erinnerungen an Max Reinhardt</span> | ||
+ | : Für den Theaterhistoriker : zahlreich die Hinweise auf Ausstattungs- und Inszenierungsdetails, die Reinhardt immer wieder – in Varianten, verbessert, erweitert – einsetzen wird, auffällig auch der Zug zu Pomp und Pracht, zur Übersteigerung als Ausdrucksmittel. | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''... Heute sehen wir in den wilden Späßen [ Offenbachs] nicht nur den Mutwillen, sondern auch eine Zug von Genialität und auch die musikalische Welt scheint geneigt, den übermütigen Hexenmeister [ Offenbach] , … der alle Taschen voll Talent hatte und mit diesem Reichtum Verschwendung trieb, anders zu werten als ehemals.'''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''Aber gerade in dieser veränderten Stellung … lag das Verhängnis der … Neuaufführung. … Programmatisch war ein großer Ulk vorbereitet … [doch] immer wieder meldete sich ein Respekt, der mit seinen Umständlichkeiten … das natürliche rasche Tempo gefährdete … . Man hatte viele Striche aufgemacht, sodaß die Farce … die Ausdehnung einer großen Oper erhielt [''''''''vier Stunden Dauer, Anm.d.Verf''''''''.]. '''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''Der Text war neu redigiert worden … [aber] man hätte besser getan, die unverständlich gewordenen Scherze … zu beseitigen [''''''''z.B. Anspielung auf die Marokko-Konferenz, Anm.d.Verf.'''''''']. … Zum Schluß des zweiten Aktes gab es einen wilden Göttercancan, der Zug in die Unterwelt, … flutete auf einer improvisierten Brücke über das Orchester weg ins Parterre hinein… . Aber zu diesem … Übermut wollte die viel zu prächtige und komplizierte, mit ernsthafter Romantik spielende Ausstattung nicht recht stimmen. Da gab es einen Himmel mit phantastischen Wolkenlagern, in die Sterne unmittelbar hineinleuchteten, ein Plutogemach mit bizarren Bildern im Totentanzgeschmack und im Kuppelsaal des Unterwelt-Banketts ein dämonisches Schattenspiel hinter den schwarzen Gittern – malerische Cappriccios, deren dämonischer Humor einen ganz fremdartigen Rahmen zu dem rationalischen Hohn der Parodie bildete … . Alles drängt in dieser Skizze [''''''''gemeint ist die opéra bouffe von Offenbach, Anm.d. Verf''''''''.] zum einfachen, treffenden , karikaturistischen Streich, nicht zur bizarren Romantik hin, und die verlotterte Götterwelt der Offenbachiade verliert ein Gutteil''''' '''''ihres Charakters, wenn ihre Kostüme in allzu großer Pracht entgegenschimmern … .'''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''Das Überwiegen des schauspielerischen Teils über den gesanglichen war vielfach unverkennbar. Ob es dem Geist der Offenbachiade entsprach, ist eine andere Frage. …'''''</span> | ||
+ | : Vossische Zeitung, 14.Mai 1906, Nr.233, Zweite Beilage | ||
+ | : „Orpheus in der Unterwelt“ so hat es Offenbach erdacht und komponiert, endet in der Unterwelt mit einem Bacchanal, mit dem „Galop infernal“ , der unerkannt als „Cancan“ durch die Literatur, die Gazetten etc. wandert. Getanzt mit Spitzenhöschen, Röcke und Beine werfen, so wie es eben die Touristen(und nicht nur diese!) vom Montmartre gerne sehen. WIE Offenbach das Finale erdacht, gespielt hatte, überliefert eine Zeichnung nach einem Gemälde von Gustave Doré. Alle, die Solisten, der Chor tragen völlig ver- rückte Kostüme und sie feiern ein Bacchanal unt er der Regie des Höllenfürsten Pluto | ||
+ | : [[Datei:doré_orpheus.jpg|thumb|right|293x226px]] | ||
+ | : <span style="color: #800000;">aus: Alexandre Faris, Jacques Offenbach, S.70 </span> | ||
+ | : Musikalisch (kurz skizziert)ist der Galop infernal im 2/4 Takt, ein rascher um-pa, umpa-Rhythmus in Achteln, im Baß in Vierteln (1/4=2 1/8) also: um-pa –gegen um= ¼ (als pochender beat), Melodik in 4 oder 8er Gruppen. Die Inszenierung von „Orpheus in der Unterwelt“ wird Reinhardt bis Anfang der 20 Jahre immer wieder auf die Bühne bringen; in München, in Berlin, im Großen Schauspielhaus und bei Gastspielen in Dänemark und Schweden, den Bühnenverhältnissen angepaßt, in Übersetzung für die Gastspiele in Dänemark und Schweden. Grundlage ist die von ihm 1906 erarbeitete Fassung. Die im Nachlaß überlieferte notierte szenische Abfolge habe ich mit einer französischen CD-Einspielung von 1953 verglichen – es ist die gebräuchliche Spielfassung, wie sie in „Musik für alle“ für die Hausmusik vom Ullstein-Verlag gedruckt wurde . Das Copyrigth vermerkt 1911. Die Szenenfolge, eine Kurzfassung ohne Zwischenspiele und Textteile/Rezitative?, ist vermutlich nach der Reinhardt-Aufführung entstanden. (Der Copyright-Vermerk 1911 sagt nichts über das tatsächliche Erscheinungsdatum aus.) | ||
+ | : Einar Nilson, Komponist und ein langjähriger Mitarbeiter von Max Reinhardt, von Gottfried Reinhardt auch als Reinhardts Musikmanager apostrophiert, stellt sehr nüchtern fest, welchen Stellenwert und welche Rolle Reinhardt, der Sprechtheaterregisseur der Musik als Teil/Bestandteil eines Werkes, das er inszenierte zuordnete: Musik übernahm die Rolle des Funktionsträgers, illustriert, überhöht die Bildwirkung. Geräusche werden gleichwertig wie Musik eingesetzt. Donnern, Heulen o..ä. erzeugt Angst und Schrecken; ein Impromptu von Franz Schubert oder Frédéric Chopin versetzt den Zuschauer in Träumerei, Verliebtheit o.ä. – vergleichbar der Programmmusik oder der Filmmusik. | ||
+ | : Aus dieser Perspektive sei die Frage gestellt: hat Reinhardt Musik also nicht eigenständige Sprache gewertet, erkannt, was aber oder vielmehr wie stand er zum Musiktheater als Gesamtkunstwerk ? Kann man den Erinnerungen von Gottfried Reinhardt tatsächlich glauben ? | ||
+ | : Gottfried Reinhardt berichtet als Chronist der Arbeit seines Vaters. Das folgende Zitat betrifft „ Die Fledermaus“ , beschreibt die Arbeitsweise des Regisseurs Max Reinhardt mit „Musiktheater“: Der Akzent lag auf dem Schauspielerischen und das machte Änderungen in der Partitur notwendig, Melodien mußten ins Orchester verlegt werden (weil die Schauspieler den gesangstechnischen Anforderung nicht genügen konnten, z.B. Koloraturen oder andere musikalische Verzierungen singen, Melodien aber schon). Im übrigen erforderte der freie tänzerische und sprachlich-rhythmische Stil der Regie mehrere musikalische Einlagen(die nicht in der Partitur stehen). | ||
+ | : Musiker sind von Natur aus neugieriges Publikum, einige erzählen von ihren Eindrücken nach dem Besuch "Der Fledermaus". | ||
+ | : Übereinstimmend beschreiben sie, daß Reinhardt keine Rücksicht auf die Sänger nahm; er negierte (um es auf den Punkt zu bringen) die spezifischen vom Singen, vom Atmen und vom Musikalischen bestimmten Erfordernisse der Sänger. Er , Reinhardt, gab den Ablauf der darstellerischen Gestaltung vor, bestimmte die Bewegungsabläufe, die Stellungen usw. ; vermutlich führte dies immer wieder zu Konfliktsituationen. | ||
+ | : '''<span style="color: #0000ff;">''"Er nahm der Musik das Dominierende, das Störende“'' .</span>''' | ||
+ | : Wenn Gottfried Reinhardt mit seiner Einschätzung recht hat, warum aber inszenierte Reinhardt - in Abständen zwar - immer wieder Musiktheater? | ||
+ | : Max Reinhardt, im Widerspruch zu sich selbst, an Berthold Held vom 21. August 1912 | ||
+ | : (Anlaß für dieses sehr ausführliche Schreiben voller technischer u.a. Details aus dem hier zitiert wird, ist das Gastspiel "Das Mirakel", Wien, Rotunde 1912. "Das Mirakel" ist eine Pantomime von Karl Vollmoeller, Musik von Engelbert Humperdinck) | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''... Man vergesse den Riesenraum der Rotunde nicht und daß die Musik das Einzige ist, was an diesem Abend gehört werden soll. ... Ich habe schon ... angedeutet, daß ... das Ganze als Oratorium wie die "hl.Elisabeth" von Liszt ('''''die 1915 in der Berliner Volksbühne aufgeführt wurde''''') besonders einzuführen ist. Die Musik muß unantastbar, und ich muß das Wort immer wieder brauchen, außergewöhnlich sein . ... '''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #000000;">(Die Datierungsdivergenz geht zu Lasten des Herausgebers Hugo Fetting: der Brief ist mit 21. August 1912 datiert, die Aufführung des Oratorium "Die Legende von der hl. Elisabeth von Franz Liszt an der Berliner Volksbühne war am 17.11.1915, vgl. Anm. 133, S. 471). </span> | ||
+ | : An einem aber besteht kein Zweifel: Reinhardt spielte genußvoll mit der „Offenbachiade“, vor allem bei „Orpheus in der Unterwelt“, bei der "Fledermaus"; bei der „Schönen Helena“ gelingt dies nicht wirklich. | ||
+ | : Was ist eine Offenbachiade: Spiel im Spiel, das Spiel mit der Maske (jeder trägt eine Maske auch wenn er keine reale Maske trägt); die Inversion, denn nichts ist so wie es scheint – Umkehrung einer Realität in die Irrealität. Gepaart mit der Lust am Schaugepränge, an der Illusion … ein schwereloses, unterhaltsames Spiel, doch nie nur Unterhaltung an sich, ironische – satirische Kritik am Zeitgeschehen, an den Zeitgenossen. In „Orpheus in der Unterwelt“ geht es um außereheliches Vergnügen aus Langeweile, Frustration; Orpheus ist ein langweiliger Konservatoriumsprofessor, der auch noch komponiert und mit seinen Kompositionen Euridike, seine Frau, quält, worauf sie sich anderweitig – als Revanche – vergnügen will. | ||
+ | : In der „Schönen Helena“ geht es nur noch um Sex, Liebe und Vergnügen. Musikalisch ist „Orpheus“ eher ein Pasticcio, mit musikalischen Zitaten, Anspielungen auf Volkslieder u.a. Lieder (z.B. Zitat der „Marseillaise“ beim Aufstand der Götter), Komponisten – Verstorbene wie Zeitgenossen (z.B. Meyerbeer, Rossini). | ||
+ | : Reinhardt verstand es hervorragend erfolgreiche Inszenierungen gewinnbringend weiter zu verwerten - er war darin seiner Zeit weit voraus - als Gastspiel, meist mit erweiterten, veränderten Neueinstudierungen, gelegentlich sogar Neuinszenierungen. | ||
+ | : Nach der erfolgreichen Aufführungsserie von 1906 brachte Reinhardt im Theater des Westens eine Serie zur Aufführung und zehn Jahre später folgte die nächste erfolgreiche Serie. Die zehnjährige Unterbrechung war zeithistorischen Ereignissen geschuldet. Der Erste Weltkrieg, aus dem Deutsche Kaiserreich war die Weimarer Republik hervorgegangen. 1920 hatte Reinhardt sich von seinem Berliner Theaterimperium als Direktor getrennt um nur noch zu inszenieren. Teil dieses Theaterimperiums war das Große Schauspielhaus; als Großraumbühne, Massentheater hatte sich der Raum für Sprechtheaterinszenierungen als ungeeignet erwiesen; die schwierigen Zeiten verlangten nach Unterhaltung. Reinhardt griff zurück auf die Inszenierung des "Orpheus in der Unterwelt" von 1906. | ||
+ | : Das Resultat war eine zur Revue tendierende erweiterte Fassung in der Neo-Rokkoko -Ausstattung von Max Rée. Der Text , die Musik wurden neu bearbeitet, es wurden neue Rollen etabliert, die die Offenbach'sche Komposition nicht kennt. Ein Beispiel nur: Die Einheit der Figur Pluto/Aristeus wurde aufgebrochen, es gab nun zwei Rollen. Aristeus - im Stile Offenbach'scher Musik im Rokkokopasticcio; dramaturgisch gibt es dabei allerdings das "kleine" Verwandlungsproblem des Aristeus beim Tod der Euridike sich in Pluto zu verwandeln; die Maske zu wechseln - denn nichts ist so wie es scheint. Es entfällt ein wesentliche Spielelement der Offenbachiade. Die Breitwandbühne des Schauspielhauses bot allerdings ausreichend Raum für Massenszenen, in der Götterwelt, beim Bacchanal in der Unterwelt . | ||
+ | Über die Premiere am Silvesterabend 1921 im Großen Schauspielhaus schreibt '''Alfred Thienemann''', Komponist, Dirigent und Rezensent beim Berliner Tageblatt eine einfühlsame und ausführliche Rezension: | ||
+ | : '''<span style="color: #0000ff;">''Offenbach ist Max Reinhardts stille Liebe. Er bildet für ihn ein Problem, dem er immer wieder mit all seiner schöpferischen Phantasie, seinem massenbändigendem Regietalent und dem ihm angeborenen Sinn fürs Große und Imposante beizukommen sucht. Schon einmal vor Jahren ('' </span>'''<span style="color: #0000ff;">1</span><span style="color: #0000ff;">906, Anm.d.Verf.</span><strong style="font-size: 0.939em;"><span style="color: #0000ff;">''), gab er uns (Neues Theater) Meister Jacques Götterkomödie im kleineren Rahmen neu gewandet. In Kopenhagen errang er damit so großen Beifall, daß ihn die königliche Oper in Stockholm … einlud. Nun hat er auch uns in Berlin „seinen“ Orpheus sehen und hören lassen, so wie „er ihn versteht“. Und daß er ihn von Grund aus versteht, bezeugte die in allen Teilen prächtige Silvesteraufführung des Werkes im Großen Schauspielhaus. … Er hatte sie ganz aufs Burleske gestellt. Gelegentlich allzusehr. So zum Beispiel, wenn Hans Styx am Dirigentenpult auftaucht und zu seinem Arkadischen Prinzenlied selbst den Takt schlägt. Doch nahm man diese und manche andere Übertreibung in dem überzeugenden Gefühle hin, einem von Meisterhand inszenierten, laut lachenden Possenspiel gegenüberzustehen, das in übermütigster Laune an Auge und Ohr vorübertollte.''</span></strong> | ||
+ | : '''<span style="color: #0000ff;">''Am Auge! Ihm boten sich farbenfrohe Bühnenbilder … Am Ohr! Nichts von den Schönheiten der Musik ging verloren. Selmar Meyerowitz leitete das Ganze mit hinreißendem Temperament … Er hatte neben sonstigen kleinen Offenbach'schen Zutaten, einige Nummern aus der späteren französischen Bearbeitung des Autors (''</span>'''<span style="color: #0000ff;">damit ist die zur Féerie erweiterte Fassungvon 1874 gemeint, z.B. die Sprechrolle der Öffentlichen Meinung wird zum Melodram. Anm.d.Verf.</span>'''<span style="color: #0000ff;">'') zugefügt. …''</span>''' | ||
+ | : Die sängerischen Leistungen erreichen hohes Niveau, werden hervorgehoben; die eher dem Sprechgesang angenäherten Darstellungen durch Schauspieler ebenso gewürdigt. | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''… Max Pallenberg war Jupiter. Äußerlich nicht ganz die imponierende Gestalt des Göttervaters (Napoleon war ... klein) … Er sagor. Nicht einmal so schlecht … Amüsant die Anfangsszene des zweiten Bildes: die Ankunft (durch den Zuschauerraum) der nachtbummelnden Götter vor dem Himmeltor und der rasende Höllenzug – Cancan von der Bühne durchs Parkett hindurch. …'''''</span> <span style="color: #0000ff;">''''' '''''</span> | ||
+ | '''"Die schöne Helena"''' | ||
− | + | „ Die Schöne Helena“ hat Offenbach musikalisch „befreit“, er hat an musikalischer Ausdruckskraft gewonnen (das soll genügen, alle weiteren Details findet man in der einschlägigen Literatur). Anders als im „Orpheus“ – die Verführung setzt die Handlung erst in Gang – ist in der „Schönen Helena“ die Verführungsszene , d.i. die Traumszene, das Duett zwischen Paris und Helena. „Es ist ein Traum …“ wird zum Höhepunkt und Drehpunkt der Handlung. Und sie ist im Sinne Offenbachs keine Offenbachiade. Sie ist ein Spiel um Sex und Liebe mit etwas Zeitsatire. | |
− | '' '' | + | '''Erich Mühsam''' bekommt von Max Pallenberg „ein prächtiges Freibillett“ in dem fast ausverkauften Haus und notiert in seinem Tagebuch (Heft 5) am 16.Juli 1911: |
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+ | : '' ''<span style="color: #0000ff;">'''''… Die "Schöne Helena" von Offenbach ist unter Reinhardts Regie zu einer ganz köstlichen Humorleistung geworden. Man mag gegen Reinhardt sagen was man will, er ist doch der einzige, der Theater spielen kann, und das ist wohl sein wertvollstes Verdienst, daß er einem wieder ins Bewußtsein gebracht hat, daß Theater Theater und nicht Wirklichkeitskopie ist. Er arbeitet mit Farben, Bewegung, Tönen, Abstimmungen – und so gehört es sich auf der Bühne. Es gab Bühnenbilder (Ausstattung von Ernst Stern), die ganz blendend schön waren. Die Offenbach'sche Musik klang herrlich durch den Raum, eine so einschmeichelnde, tänzerische, zierliche Musik, wie sie wohl nie wieder geschrieben werden wird. Und gespielt wurde köstlich. Der Menelaus von Pallenberg wird mir in seiner Komik unvergesslich sein. Den Agamemnon gab Zettl in meiner Maske, sogar der Kneifer fehlte nicht, blos war er viel länger als ich. Die Helena spielte Mizzi Jeritza , die eine sehr schöne Stimme hat, den Calchas Gustav Charlé sehr lustig. Rudolf Ritter sah als Paris sehr gut aus und sang recht schön. … Die Inszenierung war ganz glänzend. Sehr wirksam ein Steg, der durch den Zuschauerraum auf die Bühne führte, und von dem aus – also mitten durch die Zuschauer hindurch ein großer Teil der Mitwirkenden auftrat.. Lustige Einfälle in hellen Haufen. Eine Glanzleistung Reinhardts, deren Eindruck sich in stiller Selbsteinkehr sicher kein Snob entzieht. …'''''</span> | ||
+ | ''''' '''''Erich Mühsam ist kein berufsmäßiger Theaterrezensent, sondern Schriftsteller, er notiert spontan und kreativ seine Eindrücke … ''Eine Glanzleistung Reinhardts, deren Eindruck sich in stiller Selbsteinkehr sicher kein Snob entzieht''. … und überliefert ein sehr lebendiges, fast greifbares Theatererlebnis. | ||
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+ | Der Steg durch den Zuschauerraum , der ihn so sehr beeindruckt, hat Reinhardt schon in der Inszenierung des „Orpheus in der Unterwelt“ 1906 als „Überraschungseffekt“ eingesetzt – in „Sumurûn“ 1910, von Reinhardt erneut verwendet, wird in der einschlägigen Literatur als „japanischer Blumensteg“ definiert. | ||
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+ | Für „Die schöne Helena“ von 1911 und später liegt kein Material im Nachlaß Reinhardt, bis 1931 - wie beim „Orpheus in der Unterwelt“: kein Zensurexemplar (vor 1918, danach wurde die Zensur abgeschafft), kein musikalisches Material. | ||
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+ | Aber ähnlich wie beim „Orpheus in der Unterwelt“ gibt der Ullstein – Verlag eine für Klavier arrangierte Fassung mit Text für die Hausmusik in der Reihe „Musik für alle “ heraus, mit dem Copyright Vermerk 1911. Ob dieses Notenmaterial nach der Vorlage der Reinhardt-Inszenierung, der dazugehörigen Textbearbeitung und musikalischen Fassung zusammengestellt wurde, verrät der Begleittext leider nicht. | ||
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+ | [[Datei:gusti_adlerScan_0002_(3).jpg|thumb|right|285x268px]] | ||
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+ | <span style="color: #800000;">"Die schöne Helena", München Künstlertheater 1911, 2. Akt, in der Mitte auf dem Thron: Menelaus (Mx Pallenberg), li. : Helena (Maria Jeritza?), re.: Kalchas</span> | ||
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+ | Reinhardt bleibt bei der Strategie der Verwertung einer erfolgreichen Inszenierung, die "Helena" aus München 1911 geht auf Gastspielreise, u.a. auch nach Wien in das Theater in der Josefstadt. | ||
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+ | Ende 1912/Anfang 1913 zeigt das Theater am Nollendorfplatz eine „Helena“, so die Angaben (bei Huesman, Welttheater Reinhardt) die Replik einer Reinhardt-Inszenierung ist, mit Fritzi Massary als Helena und Max Pallenberg als Menelaus . | ||
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+ | ======Exkurs <span style="font-size: 0.939em;">: Theaterimperium Reinhardt in Berlin </span>====== | ||
+ | Wie schon angesprochen : 1920 gibt Max Reinhardt die Direktionsgeschäfte seiner Berliner Theater auf, die Leitung übernehmen wechselnde Direktoren, die Geschäftsführung verbleibt bei Edmund Reinhardt. 1929 stirbt | ||
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+ | 1929 stirbt Edmund Reinhardt und Max Reinhardt übernimmt erneut die „Oberhoheit“ über seinen Berliner Theaterimperium (Deutsches Theater und die Kammerspiele, Komödie und Theater am Kurfürstendamm , Großes Schauspielhaus). | ||
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+ | Das Große Schauspielhaus ist Teil der Deutsche Nationaltheater AG (DNT) Die DNT AG, d.s. Max Reinhardt und 59 Aktionäre, Vorstand und Vorsitz Edmund Reinhardt, erwirbt 1918 das Areal des Zirkus Schumann (Am Zirkus 1, Berlin-Mitte), der als Großes Schauspielhaus umgebaut wird, als Spielstätte für das Massentheater „Volkstheater“ genutzt werden soll – für die Reinhardt’schen Großraum-Inszenierungen (nach seiner Idee eines „Volkstheaters“, vgl. dazu den Brief an Berthold Held von 1894). | ||
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+ | Den Umbau übernimmt Hans Poelzig , 1919 ; das neue Haus wird von den Berliner spöttisch-liebevoll „Tropfsteinhöhle“ getauft. | ||
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+ | 1924 verpachtet die Theaterdirektion Reinhardt das Schauspielhaus an '''Erik Charell'''. Erik Charell hatte Reinhardt auf dessen ausgedehnter Tournee „Mirakel “ ( sie startet in New York , 15.1.1924) in den USA begleitet; er nutzte diese Zeit auch um sich ausführlich mit dem amerikanischen Revuetheater zu beschäftigen. Nach der Übernahme von Reinhardt führte Charell das Große Schauspielhaus als Revuetheater und Operettentheater weiter, bis er 1930/31 aufgeben mußte. Die Ära Charell endet mit dem Serienerfolg der Operette „Im weißen Rössl am Wolfgangsee“ (Ralph Benatzky u.a.). Dieser Publikumserfolg konnte das sich abzeichnende finanzielle Desaster nicht aufhalten. Die Gründe für den finanziellen Niedergang (der betraf auch andere Revuetheater) sind vor allem in innerbetrieblichen Abläufen sowie einem enormen Kostenaufwand für die opulenten Ausstattungen zu finden. (Mehr dazu in der einschlägigen Literatur, s. dazu vor allem in Wolfgang Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre). | ||
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+ | Nach dem Ende der Ära Charell übernimmt Reinhardt erneut die Direktionsgeschäfte und bespielt das Große Schauspielhaus für eine kurze Zeit wieder in Eigenregie. | ||
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+ | Am 19. April 1932 heißt es „Bühne frei“ für die „Schöne Helena“ im Großen Schauspielhaus als „Burleske Operette“ für 43 Vorstellungen. | ||
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+ | Doch bevor die „Schöne Helena“ den Weg in das Große Schauspielhaus findet, muß sie einige Umwege in Kauf nehmen. | ||
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+ | Zunächst startet sie erfolgreich am 15.Juni 1931 im Theater am Kurfürstendamm. Als Buffo-Oper in zwei Teilen und lief mit 144 Vorstellungen bis zum 15. November 1931. | ||
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+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''… gleich zu Anfang - der „Schönen Helena“ - wurde zu den Klängen der Ouvertüre auf der Vorderbühne aus einer Kiste (über der Versenkung) tänzerisch ein Arsenal homerischer Klamotten gefischt … die Requisiten des Abends - das Spiel kann beginnen … das ist der Reinhardt’sche Auftakt .'''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">''''' … Die alabasterne Schönheit und glockenreine Stimme der Novotna verlieh der Heldin … Noblesse und Lyrik, aber keinen Sex-Appeal. Hans Moser war ein zwerchfellerschütternder Menelaus, aber kein KÖNIGLICH komischer. '''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">''''' … Ein Meistergriff: das Urteil des Paris – nicht die ursprüngliche Arie, keine Erzählung, sondern aufgelöst in ein Quartett mit den drei visionär erscheinenden Göttinnen – mit einem Knalleffekt: das Striptease der aus dem Schaum des Berliner Landwehrkanals geborenen La Jana. …'''''</span> | ||
+ | : Gottfried Reinhardt ist, auch wenn er voller Bewunderung Details hervorhebt, nicht wirklich zufrieden mit dieser Aufführung im Theater am Kurfürstendamm; seiner Meinung nach sei sie „zerflattert“, weil zu episodisch, der große alles verbindende Bogen hätte gefehlt; auch die Besetzung war seiner Meinung nach nicht gut gewählt . | ||
+ | : Die musikalische Bearbeitung lag in den Händen von '''Erich Wolfgang Korngold'''. Wie diese Bearbeitung geklungen hat, ich bleibe doch lieber beim Konjunktiv, haben könnte, denn es gibt nur einen Ausschnitt der Szene zwischen Paris und Helena, das Traumduett, auf Schellackplatte mit Jarmila Novotna(Helena)und Gerd Niemar(Paris), 1932 in Berlin produziert. Das Eingangssolo des Paris läßt Offenbach ahnen – mit den Koloraturparaphrasen. Offenbach setzte den Koloraturgesang als Stilmittel ein – nicht erst mit der „Schönen Helena“. Stilistisch jedenfalls klingt das Duett so als sängen beide ein Duett von Franz Lehàr. | ||
+ | : '''Charles B. Cochran''', der berühmte englische Theatermanager „and starmaker“ lädt Max Reinhardt ein, die „Schöne Helena“ im Adelphi-Theatre, London zu inszenieren; dafür muß allerdings eine völlig neue Textfassung erstellt werden, die von A.P.Herbert geschrieben wird auf der Basis der Fassung von Egon Friedell und Hans Sassman. Außer dem Plot ist von der Offenbach’schen Opéra bouffe wohl kaum noch etwas übrig geblieben. (Textvergleiche mögen andere durchführen, jedenfalls liest sich die englische Fassung sehr puritanisch. In dem von ihm geschriebenen neuen dritten Akt kehrt das königliche Paar Helena und Menelaus nach Sparta zurück, friedlich vereint, aber genervt, routiniert als "ganz altes Ehepaar". Der Krieg ist vorbei; der graue alte Alltag hat uns wieder! Offenbachs Komposition wurde von Erich Wolfgang Korngold für London neu bearbeitet; da es keine überliefertes musikalisches Material gibt, bleibt es bei dem Hinweis, eine Einschätzung wie diese "Helena" geklungen hat, was noch Offenbach und was Korngold , darüber geben die Rezensionen keine Auskunft. Mancher Kritiker stellt die (provokante?, vielleicht auch sehr zutreffende) Frage: Was soll uns dieses altmodische Stück! Zustimmung gab es für die opulente Ausstattung von Oliver Messel und für den Star Evelyn Laye (von Charles B. Cochran lanciert), die die Helen(a) gab. | ||
+ | : Dennoch: Charles B. Cochran, ständig auf der Suche neuen, erfolgsträchtigen Revuen, Musicals, Varietés, bietet Max Reinhardt ein weiteres Offenbach-Projekt an: „Les Brigands“ /Die Banditen, eine dreiaktige opéra bouffe, die 1869 im Théâtre Varietés, Paris, uraufgeführt worden war und noch im gleichen Jahr in London unter dem Titel „Falsa Cappa“. | ||
+ | : Die Londoner Fassung der „Schönen Helena“ übersiedelte in das Große Schauspielhaus, Premiere war am 19. April 1932. Für die Textbearbeitung, präziser Neufassung des Textes (der alten Übersetzung) liegen im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek mehrere Typoskripte, laut Titelblatt als „Regiebuch“ Max Reinhardt bezeichnet. Es sind unkorrigierte, vor allem undatierte Textexemplare im Teilnachlaß Hans Sassman. Kein Regiebuch von Max Reinhardt; vielleicht sollte das Typoskript die Vorlage für ein Regiebuch Max Reinhardts werden, in das der Regisseur dann akribisch seine Anweisungen – wie gewohnt eintragen würde und es mit seinem berühmten Signet als endgültig zeichnen. | ||
+ | : Das autographe musikalischen Material von Erich Wolfgang Korngold (Bearbeitung für die Aufführung von 1931, oder zu späteren, der Londoner Bearbeitung von 1932), ist bisher nicht nachweisbar. Für die New Yorker Fassung „Helen goes to Troye“ (auf die ich nicht eingehen werde) von 1943/44 liegt das Material gedruckt vor: gedruckt erschienen bei Chappel & Co. Das dazugehörige autographe Material in der Public Library, New York. | ||
+ | : '''1928/29''' hält sich Reinhardt wieder einmal in Wien auf und lädt '''Erich Wolfgang Korngold''' zu sich ein ins Theater in der Josefstadt; er möchte ihm anbieten für seine Inszenierung die musikalische Bearbeitung und Leitung zu übernehmen. Aber Korngold kann dieser Idee leider gar nichts abgewinnen und lehnt ab. Doch Reinhardt läßt nicht locker. | ||
+ | : Lucie Korngold, die Frau des Komponisten, erinnert sich: | ||
+ | : '' <span style="color: #0000ff;">''' … Max Reinhardt ließ anfragen , ob Erich „La Vie Parisienne“ von Offenbach für das Deutsche Theater in Berlin bearbeiten und dirigieren wolle. … um nicht unhöflich zu erscheinen , ging er doch zu Reinhardt ins Theater in der Josefstadt; er kam mit einem amüsiert-verlegenen Lächeln und einem Kontrakt von dort zurück. Er hatte Reinhardt seine Zweifel an „La Vie Parisienne “ mitgeteilt und die Sache damit für erledigt gehalten . Der erwiderte aber nur ruhig: Was würden Sie sonst vorschlagen? Darauf Korngold: … warum machen Sie nicht die Fledermaus ? …'''</span>'' | ||
+ | : Korngold, der Spätromantiker, hatte – so steht zu vermuten – zu der leichtfüßigen, durchsichtigen, ironischen Eleganz der Offenbach‘schen Musik keinen wirklichen Zugang. Johann Strauß und dessen wiegende Melancholie lagen ihm da wohl näher. Entre parenthèse: Vielleicht spielte nicht zuletzt auch seine große Nähe zur Witwe Adele Strauß mit. Ich habe mir die Frage gestellt, was Reinhardt an '''„La Vie Parisienne'''“ so fasziniert haben könnte, daß er dieses Projekt wie einen unerfüllten Traum immer wieder versuchte zu realisieren, zu inszenieren. Theaterpraktisch: die Story, (Musik war für Reinhardt nur „Illustration“, kein realer Mitspieler), mit vielen größeren und kleineren Ensembleszenen – vom kammermusikalischen Quartett bis zur Massenszene , mit denen es sich reizvoll spielen ließ. Anders als im „Orpheus“ oder in der „Schönen Helena“ – in beiden gibt es die noch einigermaßen klaren Trennung zwischen Solo, Duo und Ensemble. Vielleicht auch ein wenig Nostalgie, in Erinnerung an den eigenen Beginn in Berlin, einer Stadt im Aufbruch – und für Reinhardt der Aufbruch ins Leben, in seine Theaterträume. „La Vie Parisienne“ spielt in einem Paris der Aufbruchsstimmung – mit der Projektion auf Zukunft, ihr Symbol ist die Eisenbahn. „ La Vie Parisienne“ wurde komponiert, als Hausmann auf Befehl Napoleon III. aus dem mittelalterlichen Paris eine moderne Großstadt werden ließ – so wie wir es heute kennen – mit einer perfekten Infrastruktur (z..B. Métro), Kanalisation, breiten Straßen und Plätzen, Kaufhäusern, viel Grün … Wollte Reinhardt mit dieser Regie vielleicht seine eigenen Erfahrungen, Beobachtungen widerspiegeln, verarbeiten, als er 1894 nach Berlin, in die Stadt des Aufbruchs, kam? | ||
+ | : Doch der Wunsch blieb ein Wunschtraum … Reinhardt nahm den Vorschlag von Erich Wolfgang Korngold an, statt „La Vie Parisienne“ zu inszenieren, die''' „Fledermaus“''' herauszubringen. Es ist müßig nun zu spekulieren, welche Beweggründe ihn zu dieser Entscheidung geführt haben. Eines aber läßt sich mit Sicherheit sagen: die „Fledermaus“ kam als „Offenbachiade“ über die Rampe . | ||
+ | : Gottfried Reinhardt behauptet zwar nach der Premiere | ||
+ | : '' <span style="color: #0000ff;">'''... Reinhardt nahm der Verknüpfung von begnadeter Musik und billigem Schwank die Zufälligkeit. Er nahm dem Schwank das Billige und der Musik die theaterfeindliche Vormachtstellung. …'''</span>'' | ||
+ | : Da hat Gottfried Reinhardt wohl so einiges mißverstanden. Schon seit der Antike gab es keine Theater-Aufführung ohne Musik; die Renaissance wollte das antike Theater "neu erschaffen" - das Resultat war - sehr banal erklärt "Oper" - wie gesagt, Gottfried Reinhardt hat da wohl etwas grundsätzlich mißverstanden. | ||
+ | : Die Textvorlage zur „Fledermaus“ stammt von zwei französischen Librettisten, die zahlreiche Libretti für Offenbach geschrieben haben: Henri Meilhac und Ludovic Halévy, nach einem deutschen Lustspiel „Das Gefängnis“ von Roderich Benedix. Daraus wurde im französischen Lustspiel „Le Reveillon“ . Le Reveillon bezeichnet im Französischen die Weihnachtsfeiertage bis zum Jahreswechsel (vergleichbar dem italienischen „cappodanno“). Der Plot der „Fledermaus“ , den Karl Haffner und Richard Genée aus dem französischen Libretto geformt haben, könnte von Offenbach sein. – Nichts ist so, wie es scheint. | ||
+ | : Lucie Korngold erinnert sich : | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''Die Partitur des Werkes blieb unberührt. Was hinzukam – kleine Szenen, alles von Strauß – begleitete Erich im Orchester vom Klavier aus. Reinhardt war unerschöpflich im Erfinden von Versen, die bald als Rezitativ, bald als Gesangsnummern sich dem Werke einfügten. Erich fand für ihn die passenden Straußwalzer, oft nur ein paar Takte. … Was stets Reinhardts Bestreben gewesen war: das Publikum mit einzubeziehen, eine Brücke zwischen '''''</span><span style="color: #0000ff;">'''''Bühne und Zuschauerraum zu bauen, hier hatte es die höchste Vollendung gefunden ...'''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">[[Datei:zürich.jpg|thumb|right|173x274px]]</span> | ||
+ | : <span style="color: #800000;">Max Reinhardt probiert</span> | ||
+ | : Es gibt aber auch gegenteilige Berichte von Musikern nach dem Besuch einer Vorstellung der „Fledermaus“: Reinhardt nahm keine Rücksicht auf die Sänger und ihre spezifischen vom Singen wie vom Musikalischen bestimmten Erfordernisse, das Spieltechnische stand absolut im Vordergrund. | ||
+ | : Dennoch: Der Erfolg der „Fledermaus“ füllte die Kasse, das Publikum strömte ins Theater. Die Krise der Theater, die um 1930 ausbrach, lag – scheinbar – noch in weiter Ferne. '' ''Erste Anzeichen wurden aber bereits spürbar. Erik Charell gab wegen finanzieller Probleme trotz des großen Erfolgs mit dem „Weißen Rössl“ auf; Reinhardt übernahm kurzfristig wieder die Leitung des Hauses – und mußte nun das Große Schauspielhaus bespielen. Diesen Riesenraum mit den 3000 Sitzplätzen zu füllen – aber mit welchem Stück? Seine Wahl fiel auf „Hoffmanns Erzählungen“. | ||
+ | ======'''"Hoffmanns Erzählungen"'''====== | ||
+ | : Nach der erfolgreichen Uraufführung in Paris 1881 (101 Aufführungen) unterbrach der Ringtheaterbrand in Wien, vom Dezember 1881 den Siegeszug der Oper. Erst mit der Jahrhundertwende wird das letzte Werk von Offenbach zu einer der am meisten aufgeführten Opern. | ||
+ | : 1905 erreichte '''Hans Gregor''' (der spätere Direktor der Hofoper, Wien) mit „Hoffmanns Erzählungen einen Serienerfolg von 400 Aufführungen in der Komischen Oper an der Weidendammer Brücke. Seit 1915 stand das letzte Werk von Jacques Offenbach auch im ständigen Repertoire der Hofoper/Staatsoper Unter den Linden. 1929 hatte die Kroll - Oper eine zeitgenössische Interpretation mit Bühnenbildern von Moholy-Nagy herausgebracht. | ||
+ | : In den 20er Jahren begann sich außerdem die Wertschätzung für Jacques Offenbach ganz allgemein zu ändern, ebenso - quasi parallel wurde auch das Interesse am Werk von E.T.A. Hoffmann zunehmend lebendiger. | ||
+ | : Anton Henseler hatte in Bonn über den Komponisten Offenbach promoviert; danach publizierte er die erste fundierte, dokumentarisch belegte Biographie des Komponisten 1930. Offenbach wurde nicht länger als "nur" Operetten schreibender Musiker gewertet; das Opernwerk von Offenbach wurde neu gesehen, und seine letzte Oper, das Fragment "Hoffmanns Erzählungen" wurde zum Prototyp DER romantischen Oper. (Es gibt Zeitgenossen, die "Hoffmanns Erzählungen" als „Schaueroper“ klassifizieren vergleichbar dem „Vampir“ von Heinrich Marschner – vergessen brei ihrer Einschätzung dabei aber auf das halbe Jahrhundert Zeitabstand sowie den anderen Kulturraum). | ||
+ | : '''Egon Friedell''': | ||
+ | :: <span style="color: #0000ff;">'''…'' Sein großer Zaubermeister ist Jacques Offenbach, der zuerst mit Einaktern hervortrat … In diesen Werken , erlesenen Bijous einer komplizierten Luxuskunst, ist, ähnlich wie dies Watteau für das Paris des Rokoko vollbracht hat, der Duft der Ville des Lumière zu einer starken haltbaren Essenz destilliert, die aber um vieles beißender, salziger, stechender geriet. Sie sind Persiflagen der Antike, des Mittelalters, der Gegenwart, aber eigentlich nur immer der Gegenwart, und im Gegensatz zur Wiener Operette, die erst eine Generation später ihre Herrschaft antrat, gänzlich unkitschig, amoralisch, unsentimental, ohne alle kleinbürgerliche Melodramatik, vielmehr von eine rasanten Skepsis und exhibitionistischen Sensualität , ja geradezu nihilistisch. Daß Offenbach, unbekümmert um psychologische Logik und künstlerische Dynamik, eigentlich nur „Einlagen“ bringt, wie ihm oft vorgeworfen worden ist, war ebenfalls nur der Ausfluß eines höchsten, nämlich ästhetischen Zynismus, einer Freigeisterei und Selbstparodie, die sogar die Gesetze der eigenen Kunst verlacht. Daß er aber auch ein tiefes und zartes Herz besaß, würde allein schon die Barcarole seines letzten Werkes beweisen, der „Contes d’Hoffmann“, in denen die deutsche Romantik der Vorlage, durch die Raffinade der Pariser Décadence verkünstelt und veredelt, ein wundersam ergreifendes Lied anstimmt. Hier klagt der Radikalismus des modernen Weltstädters um die verschwundene Liebe: die Frau ist Puppe oder Dirne; die wahrhaft liebt, eine Todgeweihte. Es ist, als ob Offenbach in seinem Abschiedsgesang den Satz aus dem Tagebuch der Goncourts instrumentiert hätte: '''''</span> | ||
+ | :: <span style="color: #0000ff;">'''''„Ah, il faut avoir fait le tour de tout et ne croire à rien. Il n’y a de vrai que la femme.“ Und selbst dieser letzte Satz entpuppt sich als trügerisch. …'''''</span> '' '' | ||
+ | : ''Egon Friedell, Das Zeitalter Offenbachs, in: Hoffmanns Erzählungen. Ein Sonderdruck der deutschen Buch-Gemeinschaft anläßlich der Max Reinhardt-Inszenierung von Offenbachs Hoffmanns Erzählungen im Großen Schauspielhaus, Berlin. Berlin o.J., S. 68 ff.'' | ||
+ | : Bevor ich mit Reinhardt beginne, muß ich etwas weiter ausholen, die Werkgeschichte von "Hoffmann's Erzählungen" kurz skizzieren, damit die Einwände, Argumente zur Reinhardt-Inszenierung transparent werden. | ||
+ | : Zur Einstimmung in das Folgende ein Zitat aus dem quellenkritischen Bericht von Fritz Oeser für den Klavierauszug, Kassel 1978, Ed. Alkor: | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''… Offenbach hinterließ „Hoffmanns Erzählungen „ unvollendet. … Keine '''''</span> [[Datei:offenbachportr_0002.jpg|thumb|right|235x284px]] | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''Druckausgabe gibt Offenbachs Willen und Absicht wieder, weder der Erstdruck von 1881, noch die am weitesten von ihm abweichenden Editionen nach 1907. …'''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''Der französische Brauch, im ersten gedruckten Klavierauszug eine Oper so zu veröffentlichen, wie sie dem Uraufführungspublikum präsentiert worden war, hat diese Eingriffe ['''''Bearb.etc. Anm.d.Verf.'']''' in die Werksubstanz zementiert''' …''</span> | ||
+ | : Erst 1905 kam durch die Initiative Hans Gregors an der Komischen Oper Berlin eine gegenläufige Unternehmung in Gang: der Versuch, Lücken vor allem im 4. Akt auszufüllen und Fehlendes zu ergänzen. … | ||
+ | : Choudens bringt 1907 eine „Cinquième Edition“ (mit den Veränderungen, Kürzungen etc.) heraus, es folgt basierend auf dieser Ausgabe dann die deutschsprachige Edition bei Peters , Leipzig. … | ||
+ | : 1905, Berlin Komische Oper: Hans Gregor inszeniert „Hoffmanns Erzählungen gemeinsam mit Max Morris. Basis für die Inszenierung ist die Fassung von 1904, die Raoul Gounsbourg und André Bloch für Monte Carlo erarbeitet haben. Raoul Gounsbourg leitet die Oper in Monte Carlo. | ||
+ | : André Bloch bearbeitet eine ältere Fassung, erschienen bei Choudens, fügt apokryph neue Teile und damit auch neue Musik ein, wie z.B. die berühmte Spiegelarie „Scintille diamant“ . Die Musik (der Text wird von Pierre Barbier, Sohn des Librettisten beigesteuert) wählt Bloch aus „Le voyage de la lune“. | ||
+ | : Eigentlich haben die Bearbeiter, und dies bezieht sich nicht nur auf die beiden genannten, sich das „Prinzip Offenbach“ zu eigen gemacht. Offenbach schöpfte bei Bedarf aus dem unendlichen Fundus seiner komponierten Operetten, opéra comique oder bouffes, wenn es die unmittelbare Bühnenpraxis verlangte, daß gekürzt, gestrichen, erweitert, umgestellt werden mußte, transponiert wurde, wenn es die Stimmlage eines Protagonisten verlangte, wenn Musik fehlte, wurde eben dazu komponiert – und das alles oft noch knapp bevor der Vorhang zur Premiere hochging . ... Aber auch nach der Premiere wurde weiter gefeilt ... | ||
+ | : Das berühmteste Beispiel für diese Arbeitsweise ist die „'''Barcarole'''“. Eigentlich ist die Melodie das Lied der Feen aus der erfolglosen Oper „'''Die Rheinnixen'''“, 1864 an der Wiener Hofoper als Auftragswerk uraufgeführt (anstelle von „Tristan und Isolde“). Offenbach wollte diese wunderbare Melodie nicht in seinem Noten-Fundus verschwinden lassen; sie wurde zur Eingangsmusik für den Giulietta-Akt. | ||
+ | : Der Antonia - Akt, so hatte es Offenbach geplant, sollte nach dem Giulietta-Akt gespielt werden, als Finale der Traumerzählung von Hoffmann. Bei der Pariser Uraufführung hatte man den Giulietta-Akt ganz gestrichen (angeblich war er zu lang, tatsächlich war er noch nicht aufführungsreif). Kuriosum am Rande: aber auf die Barcarole wollte man nicht verzichten - zu publikumswirksam !, also wurde sie in den Antonia - Akt eingebaut. | ||
+ | : Beim Verlag Peters, Leipzig erschien auf der Basis der Fassung des Pariser Verlags Choudens von 1907 eine deutschsprachige Fassung – die etwas weitläufig formuliert – aus der Fassung Gounsbourough (Monte Carlo 1904) und Choudens besteht. Sie wurde die für den deutschsprachigen Raum die verbindlich-spielbare Fassung; 1944 erarbeiteten Hans Haug und Otto Maag, Basel, eine neue Fassung. 1958 folgte dann die Fassung von Walter Felsenstein, Komische Oper Berlin. Zwischenzeitlich könnte man etwas überspitzt formulieren: so viele Theater ebenso viele Hoffmann-Fassungen. Nicht unerwähnt bleiben darf: zwischen 1933 – 1945 galt Jacques Offenbachs Oeuvre als „entartet“, war verboten, er selbst – der Jude Offenbach - ein Verfemter! | ||
+ | ======Der Aufbau des Werkes.====== | ||
+ | : Offenbach hatte mit seinem Librettisten '''Jules Barbier''' die Grundstruktur vorgegeben und festgelegt: | ||
+ | : Eine Rahmenhandlung als Klammer für den gesamten Ablauf der Oper, d.i. die reale und die fiktive Erzählebene von Hoffmann, die begleitende Muse/Niklausse sowie Auftritt Lindorf; Stella tritt nur im Schlußbild auf, zu Beginn der Oper wird nur über sie gesprochen. | ||
+ | : Diese Rahmenhandlung, der erste Handlungsstrang ('''erzählt von Hoffmann''') ist das zerbrochene Liebesverhältnis zwischen ihm, Hoffman, dem erfolglosen Dichter und Stella, der gefeierten, erfolgsverwöhnten Primadonna. Nach einem Zerwürfnis sucht Stella das Gespräch und sendet Hoffmann ein Billett mit dem Schlüssel zu ihrer Garderobe; dieses Billett wird abgefangen und erreicht Hoffmann nie. | ||
+ | : Stella, die verlorene Geliebte , bleibt während der ganzen Oper präsent, wenn auch nicht ad personam, sondern in der Aufspaltung in drei andere Frauengestalten, Phantasiefrauen, Improvisationen des Dichters wie des Mannes , der mit und an der Liebe gescheitert ist. | ||
+ | : '''Stella''' ist: '''Olympia''', die Puppe-Automat, die Kunstfigur. '''Antonia''', die Sängerin, die an und mit ihrer Begabung und Kunst stirbt. '''Giulietta''', die Kurtisane, die „demi-monde“ (in der Rolle der Giulietta verbirgt sich die einzige zeitkritische Anspielung: Sängerinnen, Schauspielerinnen galten gesellschaftlich als demi-monde, auf deutsch Frauen, die sich aushalten ließen – vgl. dazu''' Alexandre Dumas''' jun. La dame aux camélias/Die Kameliendame, besser bekannt durch die Oper von Giuseppe Verdi, La traviata. Das Vorbild der Kameliendame ist die Schauspielerin '''Marie Duplessis'''.) | ||
+ | : Der zweite Handlungsstrang ist die '''Muse''' in der Maske des Freundes Niklausse und dem Gegenspieler Hoffmanns Lindorf, das Prinzip des Bösen, der „Übermächte“ (Hofmannsthal). | ||
+ | : Die Muse möchte den Dichter nicht an ein allgemeines bürgerliches Leben verlieren, sie kämpft darum ihn seiner eigentlichen Berufung als Künstler zu erhalten, auch wenn ihm der öffentliche Erfolg versagt bleibt. Lindorf verachtet alles Erfolglose, ihn reizt nur der Erfolg – verkörpert durch Stella. | ||
+ | : Die beiden, Muse und Lindorf, werden – unwissentlich zu Verschwörern/Verbündeten, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven: eine Versöhnung Hoffmann und Stella darf nicht stattfinden. | ||
+ | : Der 5. Akt führt diese unterschiedliche Stränge/ Handlungsebenen zusammen: der betrunkene Hoffmann (der Weinkeller als Topos für das „Außer sich sein“, das Heraustreten aus dem Alltäglichen Ich und Welt) nimmt Stella, die erst im 5.Akt als handelnde Person in Erscheinung tritt, nicht wahr; noch weniger ihren Abgang mit Lindorf. Die Muse /der verwandelte Niklausse/ behält den Dichter | ||
+ | : '''''„ Cesse d'être homme Hoffmann!Je t'aime! soit poète!“''''' | ||
+ | : Die Muse, Stella und Lindorf sind die mit Masken handelnden Figuren, ebenso die Diener. | ||
+ | : Muse= Niklausse | ||
+ | : Stella = Olympia, Antonia‚ Giulietta | ||
+ | : Lindorf = Coppelius, Mirakel, Dapertutto | ||
+ | : Andres = Cochenille, Frantz, Pitichinaccio | ||
+ | : Das von Offenbach geplante Maskenspiel funktioniert allerdings nur dann für den Zuschauer/Zuhörer, wenn diese Figuren von einer Person gesungen werden. Offenbach hatte die Frauenpartien zuletzt für eine bestimmte Sängerin (Mlle Adèle Isaac) neu gesetzt; auch die Partie von Hoffmann wurde vom Bariton umgeschrieben für Tenor (Jean-Alexandre Talazac). Theaterpraktis ! | ||
+ | : Die genannten Orte sind Fiktion, topoi für , z.B. Venedig für Kunst, Musik, Literatur. Ich gehe noch einen Schritt weiter - mit der Komposition von "Hoffmanns Erzählungen" hat Offenbach mehr als nur eine Oper komponieren wollen um endlich Einlaß in die von ihm so heiß begehrte Opéra Comique (als Theater) zu erhalten; mit dem Fragment hat Offenbach auch sein Credo und sein Testament zur und über die Problematik des Schöpferischen in Musik gesetzt. Die Gratwanderung zwischen Kunst und Wahn, zwischen Erfolg und Scheitern. | ||
+ | : Doch Offenbach wäre nicht Offenbach, wenn er nicht eine ironische Brechung eingebaut hätte: Der Chor der Weingeister, die Geister des Alkohols, der uns enthemmt , berauscht ... – „glou, glou, glou“ – steht für das Unsichtbare, Unsagbare, und aus dem Weinfaß schlüpft die Muse/Niklausse – das Spiel im Spiel kann beginnen. | ||
+ | Wann die ersten Vorgespräche, Vorbereitungen stattgefunden haben, ist nicht belegt. | ||
+ | Max Reinhardt schreibt in einem undatierten Briefentwurf (im Teilnachl. in Wien erhalten) an '''Leo Blech''': | ||
+ | |||
+ | : '' <span style="color: #0000ff;">''' … Hoffmanns Erzählungen zu inszenieren ist schon ein alter Traum von mir. Ich glaube überhaupt, daß die nächste Zukunft eine engere Verbindung von Schauspiel und Musik bringen wird. In der phantastischen Welt des Offenbach‘schen Werkes ist Gelegenheit diese beiden Elemente des Th(eaters) zu gestalten, wenn es gelänge diese Kunst(gattung) einem großen Publikum nahezu bringen so wäre die wesentliche Aufgabe eines Volksstücks erfüllt. '''</span>'' | ||
+ | : ''<span style="color: #0000ff;">'''[…]<span style="font-size: 14.1075px;"> daß die nächste Zukunft eine engere Verbindung von Schauspiel und Musik bringen wird. ...</span>'''</span>'' | ||
+ | : ''<span style="color: #0000ff;">'''<span style="font-size: 14.1075px;">[[Datei:Erzählungen2.jpg|thumb|right|421x264px]]</span>'''</span>'' | ||
+ | : <span style="color: #800000;">"Hoffmanns Erzählungen", Olympia- Akt, Spalanzani stellt der Gesellschaft den Automaten als seine Tochter Olympia vor .</span> | ||
+ | : <span style="color: #800000;">Berlin, Großes Schauspielhaus 1931</span> | ||
+ | : Mit dem letzten Satz beschreibt Reinhardt den Trend der Zeit, wie auch seinen angestrebten, immer wieder formulierten Anspruch „Wort und Ton“ dem Drama gemäß zusammenzubringen. Reinhardt schreibt nicht expressis verbis von Musiktheater/Oper, Operette; ich spekuliere – vielleicht tendierte Reinhardt doch dahin Musiktheater zu inszenieren? | ||
+ | : Dafür spricht auch ein im Nachlaß Reinhardt überlieferter Brief von Heinz Tietjen (aus dieser Zeit) mit dem Angebot den „Don Giovanni“ an der Staatsoper Unter den Linden zu inszenieren. | ||
+ | : Das oben auszugsweise zitierte Schreiben enthält noch mehr: er geht anfänglich sehr nüchtern auf die alltäglichen Überlegungen zur Regie ein, zur Zusammenarbeit, auf die „Publikumsverführung“ durch gesteigerte Wirkung des Szenischen erzielt wird. Es folgen Bemerkungen zur Gattung Oper, Steigerung der Wirkung durch die Bearbeitung des Textbuchs mit den eingestreuten (neuen) Prosaszenen, in den Nebensätzen verbergen sich Reinhardt’sche Visionen zum Theater. | ||
+ | : Bereits in seinen Anfängen hat sich Reinhardt intensiv mit der Frage nach einem „volkstümlichen“ Theater auseinandergesetzt (daß er später eher für die Elite Theater machte, gehört zu den Widersprüchen seines Theaterlebens) , er schreibt am 4.Dezember 1894 an Berthold Held (ich zitiere nochmals aus die''sem Brief):'' | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''... ich glaube, daß volkstümliche Musikaufführungen dem Zweck der Volksbildung weit eher entsprächen …'''''</span> | ||
+ | : In dem Briefentwurf von 1931 erweitert Reinhardt seine Vorstellung: | ||
+ | : '' <span style="color: #0000ff;">'''... In der phan''''''<span style="color: #0000ff;">tastischen Welt des Offenbach‘schen Werkes ist Gelegenheit diese beiden Elemente des Th(eaters) zu gestalten, wenn es gelänge</span> diese Kunst(gattung) einem großen Publikum nahezu bringen, so wäre die wesentliche Aufgabe eines Volksstückes erfüllt. ...'''</span>''<span style="color: #0000ff;">''''' '''''</span> | ||
+ | : War es das Fragment des Offenbach’schen Oeuvre, das den Sprechtheaterregisseur Reinhardt, der sich immer wieder zum Musiktheater hingezogen fühlte, das er als Herausforderung der besonderen Art annehmen wollte ? Auch ein Regiebuch gibt es nicht. Die Antwort darauf muß offenbleiben, von Reinhardt gibt es dazu keine, zumindest ist bis heute keine aufgefunden worden. | ||
+ | : Gottfried Reinhardt meint, es wäre das Phantastische, das Groteske gewesen, das eine geheimnisvolle geradezu magische Faszination auf ihn ausgeübt hätte; allerdings in seiner Schilderung läßt er (Gottfried Reinhardt) wohlweislich offen, ob er nun von der Oper, dem Theaterstück, das Offenbach zur Oper angeregt hat oder von den Erzählungen von E.T.A. Hoffmann spricht. Aber konnte der Showman Reinhardt, dem alles, was er in die Hände nahm zum phantastischen Spiel geriet, im Fall von „Hoffmanns Erzählungen“ diesen Spieltrieb zügeln, der Versuchung widerstehen aus dem rätselhaften Torso des Komponisten Offenbach das herauslösen, was sein innerstes Wesen ausmacht ? Das Unbewußte, der Traum, der Albtraum, das Böse , die Gratwanderung zwischen Kunst und Wahn? War es tatsächlich die magische Herausforderung der Grenzüberschreitung zwischen "Kunst und Wahn" oder lockte den Showman Reinhardt das Spiel im Spiel, die Maske, die gestalterische Opulenz, die sich vordergründig förmlich aufdrängt? Vielleicht suchte Max Reinhardt, darin Jacques Offenbach nicht unähnlich, das "Absolute" des Theatralischen ? | ||
+ | : Nicht vergessen werden soll, daß zur Zeit der Inszenierung von "Hoffmanns Erzählungen" die Beliebtheit der Oper vor allem aus der Sangbarkeit der Melodien, der Schauerromantik, der Liebesgeschichten resultierte; von dem heute weit verbreiteten Credo der Werktreue war man noch meilenweit entfernt. | ||
+ | Gusti Adler, die in den Proben neben Max Reinhardt saß, oder die Vorstellungen verfolgte, gab die Probennotate , die kritische Aufführungsanmerkungen an die Darsteller weiter. Sie schreibt über die Inszenierung im „Großen Schauspielhaus“ , S. 278 | ||
+ | [[Datei:callot.jpg|thumb|right|180px]] | ||
+ | |||
+ | : <span style="color: #800000;">Umschlagbild der Klavierbearbeitung aus "Musik für alle"</span> | ||
+ | : <span style="color: #800000;">Das Motiv für das Notenheft nach Jacques Callot "Balli di Sfessania", Razullo </span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''… Da war alles: das Romantische, das Hintergründige E.T.A.Hoffmanns – das Unheimliche des Olympia-Aktes, Spalanzani, die Puppen, das Zerbrechen lebendiger Liebe an der Marionette. Venedig, Reinhardts Venedig, das er von Strnad in die Weite des Großen Schauspielhauses zaubern ließ: Kanäle, Brücken, Palazzi, die im warmen Mondlicht aus grünblauem Wasser aufstiegen. Gondeln, Gesang. Und dazwischen das Erlebnis des verlorenen Spiegelbildes, die phantastische Szene vor dem altersblinden, irisierenden großen Spiegel im Palazzo der Giulietta, in unerbittlichen Wiederholungen einstudiert, bis die Illusion vollkommen war. Reinhardt ließ die Spiegelbilder durch''''' '''''Menschen spielen. Das steigerte dann noch das Grauen der Szene, in der es Hoffmann zur Gewißheit wird, daß er sein Spiegelbild verloren hat.'''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''Nichts aber kam dem Antonia-Akt gleich: musikalisch und darstellerisch. … ['''''darin stimmen auch alle Rezensenten überein, Anm.d.Verf.]</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''… Leo Blech dirigierte. In seinen Händen lag auch die heikle Aufgabe der Adaptierung der Musik an die neue Bearbeitung, die von Egon Friedell und Hans Sassmann stammte. …'''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''… das Geheimnis der Wirkung einer Reinhardt'schen Inszenierung war die Transparenz. Ihm war gegeben, Geschehen von innen heraus zum Leuchten zu bringen. Da war kein Aneinanderreihen von Szenen: Im Ineinanderfließen wuchs und verging der Traum.'''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''In diesem Zusammenschauen entstand ein Ganzes, das den Zuschauer mit einschloß. Zum Klang kam dann noch Bewegung, Tanz. Das war gerade bei dieser Aufführung, in diesem großen Haus (mit 3000 Plätzen), bei diesem Publikum eine Notwendigkeit. Verbindend rankten sich Tanzszenen zwischen hochdramatischem Geschehen , gewährten Atemholen und kurze Entspannung'''''. </span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''… Wenn Reinhardt Werke inszenierte, die von Musik getragen waren, verfiel er ihrem Rhythmus vollkommen. Seine Freude daran übertrug sich auf Sänger und Schauspieler, brachte dramatische Steigerungen und führte in Tiefen, die bis dahin unerschlossen geblieben waren. …… „Alles auf Noten“ gesetzt, von der bekannten Musik getragen, aber unendlich bereichert, durchleuchtet. ...'''''</span> | ||
+ | : Gusti Adler beschreibt den Olympia-Akt sehr präzise: die Koloraturarie der Puppe Olympia endet lt. szenischer Anweisung im Textbuch/Klavierauszug mit dem Zerbrechen der Puppe in den Armen Hoffmanns. Reinhardt jagt die Sängerin richtiggehend über die Bühne, bis sie zerbricht (gedoubelt von einer Tänzerin). In der Offenbach-Version singt und tanzt sie sich (wie rasend) um sich selbst, bis sie zerbricht, keiner ihrer "Schöpfer" kann den rasenden Tanz stoppen. Die Koloraturen sind Stilmittel, sie unterstreichen: hier produziert ein Automat Töne. | ||
+ | : Dazu aus Alexander Faris, Jacques Offenbach , S. 227 | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''… Koloraturgesang ist so offensichtlich eine Zurschaustellung von vokaler Technik, daß er bei wahlloser Anwendung dramatisch bedeutungslos wird und keine andere andere Aussage vermittelt als die Fähigkeit der Sängerin['''des Sängers, Anm.d.Verf.'''] seinen Anforderungen zu genügen. … Koloratur [ist] ein Mittel um eine Gestalt zu enthumanisieren; die Königin der Nacht ist böse, Lucia di Lammermoor ist wahnsinnig, Olympia ist ein Automat. …'''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">''' G'''</span>ottfried Reinhardt schreibt, daß Reinhardt auf sängerische Bedürfnisse oder Anforderungen keinerlei Rücksicht nahm; worauf die Beschreibung der Szene (durch Gusti Adler) teilweise zutrifft (immerhin wird gedoubelt). Musik als Klangrede (um ins 21.Jahrhundert zurückzukehren) wurde zu Lebzeiten Reinhardts noch nicht in diesem Sinn verstanden. Entweder gab es Oper (verkürzt formuliert Konzert im Kostüm. Der Weg zum Musiktheater nach heutigem Verständnis stand erst am Beginn. Experimente wie die Krolloper wurden nur von einem geringen Teil des Publikums verstanden und auch angenommen. Aus meiner Sicht steht Reinhardt mit seinen Musiktheaterinszenierungen zwischen den Zeilen. | ||
+ | : Reinhardt ließ das Offenbach'sche Fragment – wie es damals einfach gängige Theaterpraxis war – bearbeiten- textlich wurde es ergänzt, erweitert, umgeformt – und dafür war musikalische Bearbeitung nötig: '''Leo Blech''', der die musikalische Leitung und die Bearbeitung übernommen hatte, schreibt im Programmbuch: | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''… wie soll bearbeitet werden ? … Ich hatte immer das Gefühl , daß dieses Werk szenisch noch nicht ausgeschöpft wurde – ausgeschöpft mit den Mitteln der heutigen Bühnenmöglichkeiten und durch die treibende Kraft einer reich und neu gestaltenden Phantasie … '''''</span><span style="color: #0000ff;">'''''(''''''''Offenbach, Anm.d.Verf.'') ... so wie das Werk vorlag, hätte er es nicht den Bühnen übergeben. '''''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''Was hat''' '''allein'''''' die Rahmenhandlung nicht alles mit sich durchmachen müssen! Mahler strich sie bei seiner Aufführung des Werkes völlig weg und ließ nur … die Erzählungen. ..''' ''</span> | ||
+ | : <span style="color: #0000ff;">'''''Ich griff nur da ein, wo Reinhardt für seine Bühnenvisionen keine oder nicht genügend auswertbare Musik vorfand . … Ich mußte feststellen, daß Reinhardt mit geradezu hellseherischem Instinkt immer gerade da einhakte, wo die vorhandene Musik seltsam unausgiebig war. …'''''</span> '' '' | ||
+ | : Leo Blech, Ob überhaupt und wenn ja, wie!, Programmbuch zu Hoffmanns Erzählungen, S. 116 ff. | ||
+ | : '''Schlußwort''' | ||
+ | Nachdem ich nun akribisch viel zusammengetragen habe zur Inszenierungsarbeit Reinhardts an verschiedenen Werken Offenbachs, wird der Leser fragen: und was folgt daraus ? – zu wenig um bahnbrechend für die Entwicklung des Musiktheaters wird die Theaterwissenschaft erklären, zu wenig biographisch werden mir die Biographen entgegenhalten, die sozio-politische Tätigen werden spitzzüngig anmerken: Elitetheater! | ||
+ | |||
+ | Nichts und alles trifft zu. Offenbach zieht sich wie ein versteckter Ariadne-Faden durch das Bühnenleben von Max Reinhardt. | ||
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+ | Es beginnt mit dem Merkur in „Orpheus in der Unterwelt“ 1893 auf der Vorstadtbühne in Rudolfsheim; möglich daß Reinhardt auch dort erfahren und erlebt hat, wie „Volkstheater“ – Vorstadttheater funktioniert(vgl. dazu den Brief an Berthold Held vom 4.12.1894); das Publikum in Rudolfsheim waren Arbeiter, Handwerker, kleine Beamte, kleine Händler., vielleicht gelegentlich der eine oder andere aus der Mittelschicht. | ||
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+ | Vielleicht nur als kurzer Hinweis: die Wiener Vorstadtbühnen (die bis zur Schleifung der Befestigungsanlagen 1857 vor der Stadt lagen), hatten allgemein großen Zulauf , nicht nur aus der Vorstadt; mit der Stadterweiterung veränderte sich die Publikumsstruktur, es gab in der Folge mehr Vorstadtbühnen, häufig auch in sogenannten Vergnügungsparks, wie eben beim " Schwender ". | ||
+ | |||
+ | 1901: | ||
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+ | Schall und Rauch spielt als Nachtvorstellung Offenbach, „'''Hanni weint und Hansi lacht“''' (Jeanne qui pleure et Jean qui rit), Operette (opérette bezeichnet im französischen kleine Oper, Singspiel!). Das kleine einaktige Spiel um zwei Verliebte, die sich am Ende doch noch kriegen, hatte Offenbach für das Kurtheater in Bad Ems 1864 komponiert. In Wien stand es zuletzt langjährig auf dem Spielplan des Carltheaters (Noten – und Textmaterial sind erhalten geblieben). 1901 hatte Reinhardt mit seinem Ensemble im Carltheater gastiert. Und um diesen kleinen historischen Rückblick abzuschließen: Offenbach wurde in Wien schon zu seinen Lebzeiten viel gespielt, es gab eine Offenbach-Tradition, die nicht zuletzt mit Karl Kraus einen einsamen Höhepunkt erlebte. | ||
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+ | Und immer wieder - der Ariadne-Faden : Offenbach - Orpheus, Helena, Hoffmann – nicht realisiert Pariser Leben und die Banditen (Les Brigands) . „Die schöne Helena“ –in der Verkleidung „Helen goes to Troye“ im Alvin Theatre, New York, bleibt als Inszenierungsfragment zurück. Reinhardt stirbt am 31.Oktober 1943. Die Premiere der Produktion , von Herbert Graf realisiert, findet am 24. April 1944 statt. | ||
+ | |||
+ | Mehr Fragen als Resultate sind geblieben; die Überlieferung des Spielmaterials ist sehr lückenhaft, es fehlt vor allem das musikalische Material um einen umfassenderen Einblick in die Arbeit von Max Reinhardt, in seiner Vorstellung „Volksstücke mit Musik“ (Brief an Berthold Held, 1894) zu finden. Doch schon die Bruchstücke lassen erkennen, daß Reinhardt ein etwas widersprüchliches Verhältnis zur Musiksprache und ihren Erfordernissen hatte. Er gebrauchte Musik als dramaturgisches Movens, und – ohne Kenntnis der musikalischen Materialien (die „Fledermaus“ ist als Klavierauszug zu wenig aussagekräftig) und möglicher Regieunterlagen bleiben nur Berichte, Rezensionen und Photographien. Die Photographien der Zeit sind – dem technischen Standard entsprechen statuarisch, oft auch nachgestellt … erzählen zu wenig über szenische Abläufe. Akustisches Material – Plattenaufzeichnungen – bis auf das „Traumduett“ (Ausschnitt) aus der „Schönen Helena“ von 1932 – reichlich sparsam. | ||
+ | |||
+ | Es war dennoch eine spannende Spurensuche in die Welt Max Reinhardt und Jacques Offenbach gesehen und gehört mit den Augen und Ohren des Regisseurs … | ||
+ | |||
+ | Man wird mir nun entgegenhalten Reinhardt, Theatermann als Geschäftsmann, suchte und erfolgsträchtiges, gewinnbringendes Spielmaterial. Das ist zutreffend , aber nur eine Seite der Medaille – das Resultat seiner künstlerischen Visionen, wenn man es poetisch formulieren wollte – und seine Vorliebe für Offenbach, die vielleicht auch eine „unglückliche“ Liebe war, ist Beweis genug dafür. Warum ich von „unglücklich“ spreche? Es muß einen Zeitpunkt gegeben haben, da glaubte Reinhardt wohl nicht mehr an Text und Musik als Einheit wie von Offenbach komponiert, sondern griff vehement in die Dramaturgie, in die Struktur der Werke ein; das trifft allerdings nicht nur auf Offenbach zu. | ||
+ | |||
+ | Bleibt immer noch die offene Frage, was hat die Offenbach’schen Werke für Reinhardt so faszinierend gemacht? – denn nichts ist – Binsenweisheit – schwerer zu inszenieren als die sogenannte „leichte Muse“. – Sie ist nicht Oper, verlangt aber – wie das Genre Oper als Musiktheater – absolute musikalische Perfektion mit leichter Hand. | ||
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+ | Schauspieler gestalten ihre Figuren, aber – mit den Mitteln der Sprache des Sprechens und nicht mit dem Element der musikalischen Sprache. Waren die Inszenierungen also nichts anderes als ein Experiment, ein Versuch sich dem Musiktheater auf diese Weise zu nähern? - Musiktheater als „Volkstheater“? | ||
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+ | 1943 entwirft Max Reinhardt einen Brief für den Drehbuchautor Ben Hecht; er erzählt von seinem Plan zu einer amerikanisierten „Schönen Helena“. Er beschreibt seine große Faszination, die das Offenbach‘sche Oeuvre auf ihn ausübt; allerdings geht seine Phantasie ganz andere Wege. Die Reinhardt‘sche Vorstellung einer theatralischen Präsentation der „Belle Hélène“ von Jacques Offenbach als Einheit von Wort und Ton als satirisch-ironisches Spiel komponiert, entfesselt eine Kettenreaktion von Überarbeitungsmechanismen, und endet in der Vision einer -sehr puritanischen - Neufassung des Spiels um Sex und Liebe . | ||
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+ | Reinhardt bekennt | ||
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+ | .'''<span style="color: #0000ff;">''.. daß in ... dem französischen Original, die Musik einen großen, der Dialog einen viel zu kleinen Spielraum ''</span>'''<strong style="font-size: 0.939em;"><span style="color: #0000ff;">''hatte ...''</span></strong> | ||
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+ | Der Theatermann Reinhardt, der Regisseur Reinhardt fühlt sich von der Musik Offenbachs „ entmachtet “? | ||
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+ | Das Ende des Nachworts ist mein Danke an alle, die mir mit Material, Informationen und Korrekturen geholfen habe, dieses komplexe Thema (weil nur sehr lückenhaft belegbar) wenigstens als Spurensuche zu beschreiben. | ||
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+ | Dagmar Saval | ||
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+ | Wien im November 2020 | ||
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Aktuelle Version vom 12. November 2020, 11:34 Uhr
Inhaltsverzeichnis
Offenbachiade ? chez Max Reinhardt
Max Reinhardt in Schloß Leopoldskron, Salzburg, während der Salzburger Festspiele um 1925. Die "Schloß-Inszenierung" - einsamer Höhepunkt seiner Regieträume
- ... Reinhardt lehnt über die Balustrade und lacht, er möchte zu gern einmal bei sich zu Gast geladen sein. ...
- zit. nach: "Weißtdunoch-Verse" von Ruth Landshoff-Yorck, Klatsch, Ruhm und kleine Feuer. Biographische Impressionen, S.230
Für ein Max-Reinhardt-Symposium in Bratislava sollte ich über "Max Reinhardt und seine Musiktheater-Inszenierungen" vortragen, seine „musikalische Prägungen“ wie ich es nannte, mit einer tour d'horizon in knapp 20 Minuten einem sehr gemischten Publikum nahebringen. Ich habe mich 2018 für vier ausgewählte Inszenierungen entschieden, deren innerer Zusammenhang unüberhörbar. Jacques Offenbach und Johann Strauß Sohn, beide "einsame" Meister der Operette, des "Vergnügenszuges" (Johann Strauß). 1864 trafen sichJacques Offenbach und Johann Strauß in Wien ; und - so wird berichtet -, sich sofort ausgezeichnet verstanden. Im gemeinsamen, sehr musikalischen Gespräch, meinte Offenbach ganz spontan: "Monsieur Strauß, warum komponieren Sie nicht Operette ?" Zehn Jahre später kam die Operette aller Operetten auf die Bühne des Theaters an der Wien: „Die Fledermaus“. Nichts ist so wie es scheint, wie in einer OFFENBACHIADE läuft das Räderwerk der "Fledermaus“.
Die Werke Offenbachs waren in der zweiten Hälfte des 19.Jh. auf den Wiener Bühnen sehr präsent; der theatralische Motor des Wiener "Offenbachfiebers" war Johann Nestroy, Sänger, Schauspieler und Textautor.
Dann, 1881, eine glanzvolle Wiener Erstaufführung von „Hoffmanns Erzählungen"; eine erfolgversprechende Aufführungsserie wurde jäh, schon nach der zweiten Aufführung unterbrochen: es kam zu einem - damals immer sehr gefürchteten Theaterbrand - , eingegangen in die Geschichte als "Ringtheaterbrand vom 8.Dezember 1881". Dieses Ereignis "stigmatisierte" die Oper für Jahrzehnte, vor allem im deutschen Sprachraum.
Eines Tages habe ich meinen alten Text von 2018 wieder gelesen, fand ihn etwas "kurzatmig"; es folgte eine neue, etwas erweiterte Auseinandersetzung (damit ist das Thema noch lange nicht ausgeschöpft) mit den drei Inszenierungen von Max Reinhardt: „Orpheus in der Unterwelt“, „Die schöne Helena“ und „Hoffmann‘s Erzählungen“ von Jacques Offenbach.
der Wie aber kommt Offenbach zu Reinhardt oder wie kommt Reinhardt zu Offenbach ? – diese Frage war mein ständiger Begleiter; daß Reinhardt 1893 in einer Vorstadtinszenierung den Merkur spielte, genügte mir nicht als "Verführung zu Offenbach", auch nicht das Wissen um die Wiener Offenbach-Tradition. War es vielleicht Arthur Kahane, Reinhardts langjähriger Freund und Wegbegleiter, der "theatralisch-visionäre Rebelle"gegen den Trend der Zeit als Dramaturg des Deutschen Theaters von 1905 - 1932 ?
Arthur Kahane schreibt im Programmbuch zur Aufführung von "Orpheus in der Unterwelt" 1922 : „ Phantasie über OFFENBACH als Vorwort“ für die Inszenierung im Großen Schauspielhaus, Berlin. Für diese Inszenierung hat Arthur Kahane gemeinsam mit Max Run die Neufassung des Textes übernommen.
Das Vorwort, eine einzige Liebeserklärung an den liebevollen Spötter Jacques Offenbach:
- … Und so ist Offenbach‘s Schönheit … eine beauté du diable. Seine Musik ist – … Lockung, Einladung und Verführung zur Sünde. Zu einer Sünde, die so charmant, so reizvoll, so melodisch, so amüsant ist, daß keine Tugend der Welt die Konkurrenz mit ihr aufnehmen kann. Gewiß, der unerbittlich Spöttische macht sich auch über das Laster lustig, deckt seine Schwächen, seine Eitelkeiten, seine Lächerlichkeiten auf, aber wie über etwas, das man von Herzen liebt. Antipathisch ist es ihm auf keinen Fall. Er kennt es. Kennt seinen Geschmack , seine Freuden, seine Lebensformen, seine Gewohnheiten, wie man sich selber kennt, trifft seinen Rhythmus so täuschend, mit so verliebter Geschicklichkeit, daß schießlich Offenbachs Rhythmus vom Rhythmus der Sünde kaum zu unterscheiden ist. Fast möchte man glauben, die Sünde bewegt sich, tanzt und liebt im Offenbach’schen Cancan-Tempo. … Nichts ist schwerer als das Leichte. Unerschöpflichkeit der Erfindung und des Einfalls vorausgesetzt; aber jedes seiner größeren Werke ist technisch, rhythmisch, melodisch, harmonisch eine geschlossene Einheit, zeigt eine neue Form, ein eigenes Gesicht. … Das einmalig Offenbachische steckt im Text ebenso wie in der Musik. Mögen die Namen Crémieux, Meilhac, Halévy, Nuitter auf den Titelblättern stehen, der wahre Dichter dieser unvergänglich entzückenden Gaminierien ist Offenbach’s Musik. „Gesamtkunstwerk“ sagt man in dem gründlicher programmatischen Deutschland. Nur daß es hier erreicht ist. …
Zur Überlieferung der Textbearbeitungen in der Vergangenheit meint Kahane:
- … Das Kostüm (damit meint Kahane den Text, Anm.d.Verf.) muß von Zeit zu Zeit erneuert werden, das heißt: die Übersetzung, die eine nicht immer stilsichere Operettenroutine dem Werk umgehängt hat. Das Offenbach’sche Werk bedingt einen Publikumskontakt, der sich nur durch das zeitgemäß aufgefrischte Spiel mit der Aktualität erzielen läßt, … .
Mit dem Hinweis auf den Publikumskontakt trifft Kahane in das Herz des Reinhardt’schen Theaterkonzepts; vielleicht war diese Idee das auslösende und verführende Movens für den Theatermann und Bühnenmenschen Max Reinhardt sich mit dem Offenbach’schen Oeuvre auseinander zu setzen? Und: Lachen, Lachen; Lachen – ein genußvolles Lachen, wertfrei, ungebunden – vielleicht auch Höllengelächter ? das war es, was Offenbach für sein Publikum wollte und Reinhardt, wenn er Offenbach inszenierte, ebenso. Viele Zeitgenossen Reinhardts genossen diesen Zaubertrank des Lachens, wie z. B. Erich Mühsam.
Die Säle waren ausgebucht, der Erfolg gab Reinhardt recht, die ausgewählten Werke, die Texte vor allem wurden dem Zeitgeist entsprechend modifiziert oder völlig neu formuliert.. Einspruch: war diese umfangreiche Bearbeitung von „Hoffmanns Erzählungen“(wie sie in den Nachlaßpapieren vorliegt, von den Rezensenten sehr kontrovers rezipiert wird) in diesem Umfang gerechtfertigt? Ich komme später darauf zurück.
Mit der Besetzung der Rollen mit Schauspielern, die singen und tanzen mußten, griff Reinhardt eigentlich nur eine uralte Theatertradition erneut auf; Wer auf der Schaubühne (bis in das 19.Jh. ) Furore machen wollte, der mußte ebenso gut singen, tanzen wie sprechen können.
Offenbach ( er ist keineswegs eine Einzelerscheinung) komponierte die Rollen seiner Operetten für Sänger, die Schauspieler - oder umgekehrt - waren, schrieb ihnen die Rollen in die Stimme, „auf den Leib“. Das trifft auch auf die unvollendet gebliebenen „Hoffmann’s Erzählungen “ zu.
Die meisten zeitgenössischen Kritiker sahen das natürlich anders, man wollte „Schöngesang“, perfekte Darstellung und begriff nicht, daß im Fragment, dem Unvollendeten, die eigentliche Perfektion verborgen ist. Dem Publikum war‘s egal, es kam zahlreich, amüsierte sich und war begeistert.
Träger und Teil dieser Erfolge war die Wahl der Protagonisten; wenn Reinhardt für die Münchner Inszenierung, 1911, der „Schönen Helena“ Fritzi Massary für die Titelrolle (alternierend mit Maria Jeritza, damals noch am Beginn ihrer Karriere) gewinnen konnte, so landete er einen „Volltreffer“.
- … Sie war in reinster Ausprägung , was der ‚Herr‘ ihrer Zeit liebte und ‚die Dame‘ neidvoll verehrte … Sie sang etwas näselnd, ihre Stimme brach ab und zu weg, aber die Suggestion der Massary auf ihr Publikum war so stark, daß sie ihm war, was sie ihm sein wollte. … ihre Gabe der raffinierten Andeutung, der scharf pointierten Treffsicherheit in Ton und Geste, war ihr … Vermögen , etwas durch Verschweigen auszudrücken, Zweideutiges durch geschickt genutzte
- Vieldeutigkeit eindeutig werden zu lassen. …
- Otto Schneidereit, zit. nach Wolfgang Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre, S. 32
- Fritzi Massary, Berlin um 1910
Berlin um 1890
Max Reinhardt kam 1894 in eine Stadt, die im Begriff war sich einer gewaltigen Metamorphose zu unterziehen. Aus einer gemütlichen, langweiligen Residenzstadt mit ehemals 880.000 Einwohnern wurde zwischen 1880 und 1914 eine Millionenmetropole. Im Osten, im Norden entstanden riesige Industrieanlagen mit rauchenden Schloten, tristen Mietskasernen, Massenquartieren für die Arbeiter. Im Zentrum, in "Mitte", dem alten Stadtkern, pulsierte das Leben, lag das Zeitungs- und Bankenviertel, viele Kasernen und vom Schloß paradierten die Truppen Wilhelms II. die "Linden lang" über den Kaiserdamm, die Heerstraße - von Berlin-Mitte nach Potsdam.
Friedrichstraße /Unter den Linden, mit dem Kaffee König, um 1900
Im Westen, im Südwesten der Stadt entstand ein "zweites Zentrum" rund um den Ku(fürsten)damm. Hier wohnten die „Reichen und Schönen“, die Beamten, die gehobene Mittelschicht.
Das Kulturleben prosperierte in dem Maße wie die Stadt industriell und finanziell wuchs . Der künstlerische und gesellschaftliche Erfolg des Theatermanns Max Reinhardt war Teil dieser Prosperität, er war an ihr beteiligt.
"Frau Luna", Operette von Paul Lincke, Schlußbild. Uraufführung, Berlin, Apollo-
Theater, ein Serienerfolg, 2.Mai 1899
Das Szenario basiert auf "Le Voyage à la lune"/"Die Reise auf dem den Mond " von Jacques Offenbach, UA Paris 26.Okt.1875
Das Kultur- und Gesellschaftsleben hatte zwei Gesichter, war janusköpfig.
Es gab das konservative, Wilhelminische, rückwärts gewandte, militärisch dominierte Berlin mit „Garde du corps“, das „Donnerwetter –tadellos!“ - das war nicht nur der ironisch-lächelnde Titel einer Revue im Metropol-Theater in der Behrensstraße.
Das progressive, immer vorwärts drängende, sozial orientierte und engagierte Berlin, das von Neuem und Neuerungen nie genug bekommen konnte, und bemerkenswert demokratisch – trotz Zensur und Militarismus - seine Kunstvisionen leben konnte. Wohl weil die offizielle Kunst von „Wilhelm Zwo“ bestimmt, diese Entwicklungen und Strömungen nicht zur Kenntnis nahm, nicht zur Kenntnis nehmen wollte.
Ganz Berlin ist eine Baustelle. Straßen werden gebaut, die Gasbeleuchtung, die elektrifiziert wird, auf Brachen werden Bauten hochgezogen – der Westen der Stadt wächst mit dem Ostteil zusammen. Der Kurfürstendamm, liebevoll spöttisch berlinisch Ku-damm genannt, ist noch Baustelle. Im wesentlichen konzentrierte sich – noch – alles in „Mitte“, das war: die Dorotheenstadt ( mit vielen Kasernen, auch in unmittelbarer Nähe des Deutschen Theaters), die Luisenstadt, die Friedrichstadt und der ständig wachsende Ostteil mit seinen Fabrik- und Industrieanlagen und Mietskasernen. Die Friedrichstraße vom Oranienburgertor bis zur Leipziger Straße war die „Schlagader “ in „Mitte“, Zentrum, Flaniermeile. Hier spielte sich alles ab, das kulturelle Leben, die Theater, die Amüsiertempel , die großen Einkaufstempel, die Warenhäuser wie Tietz, Gerson, die Banken, das Zeitungsviertel, die Museumsinsel, in lebendiger Konkurrenz zu "den Linden" mit der Hofoper (heute Staatsoper) Unter den Linden, dem Zeughaus (heute Historisches Museum(, die Neue Wache, die Hofbibliothek (heute Staatsbibliothek).
"Chat Noir", ein beliebtes Nachtlokal in der Friedrichstraße, Berlin-Mitte, um 1900
Café Nachtasyl, in der Krausestraße, Berlin-Mitte, um 1900
Aus den Berliner Anfangsjahren gibt es nur wenig schriftliche Dokumente von Max Reinhardt ( Briefe, Tagebuchfragmente). Sie erzählen von Theaterproblemen, Rollenstudium, wann er spielfrei hat; der junge Mann stürzt sich vehement und genußfreudig in das chaotische Durcheinander der Großstadt, notiert mit gelegentlicher Bissigkeit seine Beobachtungen.
Berlin um 1890 ist auch das Berlin des Hofpredigers Adolf Stoecker (1835-1909). Von der Kanzel, als Politiker macht Adolf Stoecker den modernen Antisemitismus gesellschaftsfähig. Sein Vokabular: „verjudeter “ Großkapitalismus, „verjudete Linke“ usw. Seine Programmatik: protestantisch ausgerichtet, antikapitalistisch, antiliberal, antisozialistisch, verknüpft mit einem scharfen Antisemitismus, nach
Einschätzung der Historiker des 20.Jh. war es „die Politik der Gosse“, die Stoecker erfolgreich vertrat.
Bleibt die offene Frage, welchen antisemitischen Anfeindungen Max Reinhardt seit seinen Anfängen in Berlin ausgesetzt war - die Angriffe aus der Jahren des ausbrechenden Nationalsozialismus sind bekannt, aber was davor ?
Reinhardt war sich seiner jüdischen Herkunft sehr bewußt, notiert wohl auch immer wieder mal (in seinem Tagebuch) „weniger gejüdelt“. Aufhorchen läßt aber die Notiz aus seinem Tagebuch, vom April 1895. Nach einer ausführlichen Analyse und Auseinandersetzung mit Rudolf Rittners Talent und Persönlichkeit als Darsteller (er wurde wie Reinhardt 1894 an das Deutsche Theater engagiert), notiert Reinhardt:
- … Zwischen Ariern und Semiten besteht eine gegenseitige Assimilation, die bald einen totalen Umschwung der Verhältnisse zur Folge haben kann. Der Jude veridealisiert sich immer mehr. In allen Wissenschaften, in geistigen Fragen dominiert er u. bildet das Hauptkontigent. Er wird abstrakter u. verliert ganz den Boden des Lebens unter seinen Füßen. Immer mehr geht die unpraktische Träumerei u.Sentimentalität (des Deutschen) auf ihn über. Der Arier jedoch eignet sich immer mehr von der jüdischen Geschäftsschlauheit an und gewinnt immer mehr Fuß auf dem realen Boden des Daseins, den der Jude verläßt. Das ist praktischer, jenes idealer. …
Ich Iasse dieses Zitat sehr bewußt unkommentiert stehen. Wollte ich diese vom jungen Reinhardt notierten Überlegungen zeithistorisch etc. analysieren, würde ich mein eigentliches Thema glatt verfehlen; das Zitat von 1895 „legt den Finger auf die Wunde“ der Assimiliation einer Minderheit. Reinhardt, der sich nie taufen ließ, ahnte die Problematik der – vor allem assimilierten - jüdischen Minderheit.
- … Reinhardt war ein gläubiger Jude, wenn er auch nur einmal im Jahr in den Tempel ging: zum Yom Kippur. Wo immer er auch sein mochte, an diesem Tag fastete er und blieb viele Stunden lang im Tempel. …
- schreibt Gusti Adler, in … aber vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen. Erinnerungen an Max Reinhardt, …..S. 385
- Gusti Adler war seit 1919 die engste Vertraute von Max Reinhardt, befreundet seit Kindertagen mit Helene Thimig - Reinhardt, Max Reinhardt's zweiter Frau. Viele Details ihrer Aufzeichnungen sind – wenn auch mitunter sehr subjektiv - eine unerschöpfliche Quelle, auch über den Alltag des Regisseurs Max Reinhardt .
- Reinhardt spielte auf seinem Bühnen für ein mittelständisches, großbürgerliches – oft jüdisches - Publikum, aber auch für ein weniger gut betuchtes, weniger gebildetes Publikum, das er – immer mit der Prätention „Volksbühne“ mit Hilfe der Besucherorganisation „Volksbühne“ erreichte.
- „Die Beziehungen Reinhardts zur Volksbühne reichten bis in seine eigenen direktorialen Anfänge zurück … Vor allem war es das Neue Theater unter der Führung des jungen Max Reinhardt, das von der Volksbühne bevorzugt wurde. Gleichzeitig mit dem Pachtvertrag hatte der Vorstand die damals leitenden Köpfe der Reinhardt-Betriebe, Max Reinhardt und dessen Mitarbeiter Felix Hollaender, in den Künstlerischen Ausschuß der Volksbühne aufgenommen. Die Volksbühnenbewegung …. hatte sich am Beginn des neuen Jahrhunderts zu dessen(Max Reinhardtbühne) Kapitalzubringer gewandelt. …. Dem jungen Direktor Max Reinhardt konnte der auf Pachtvorstellungen bedachte Geschäftsbetrieb der Neuen Freien Volksbühne nur angenehm sein. Zu den Abendvorstellungen im Neuen Theater gesellten sich jetzt für ihn ertragreiche Nachmittagsvorstellungen. … 'Als Reinhardt das Deutsche Theater übernahm, begleitete ihn die Neue Freie Volksbühne. 'Der starke Mann der Volksbühne … und nunmehriger Kassierer, Heinrich Neft, boxte den zweiten Vertrag mit Reinhardt gegen die Bedenken der Mitglieder durch ….
- Die Verbindung mit Reinhardt wurde zu einer andauernden. Als die Volksbühne 1915 das Risiko für das eben erst am Bülowplatz eröffnete große Haus nicht mehr tragen wollte, übergab sie es für die drei Spielzeiten 1915/16 – 1917/1918 ... pachtweise an Max Reinhardt . ... Zu kostenloser Pacht…
- Heinrich Braulich, Max Reinhardt, Theater zwischen Traum und Wirklichkeit, S. 154 ff.
- Reinhardt berichtet dem Freund Berthold Held seine Berliner Erlebnisse, Eindrücke und am 4. Dezember 1894 schreibt er von seiner Idee „volkstümliche Aufführungen“ zum Zwecke „der Volksbildung“ zu machen:
- An Berthold Held am 4. Dez.1894 aus Berlin
- … Publikum, schöne Weiber u. gutes Bier. Wir haben die Absicht, den Besuch dieser Konzerte zu forcieren. Ich verstehe von Musik nicht viel, bin aber trotzdem oder vielleicht gerade darum sehr empfänglich für sie. Als Schuljunge begann ich einige Monate herumzuklimpern, konnte dem Scalenspiel jedoch keinen besonderen Geschmack abgewinnen und ließ es bald. Ich bin also in akademischer und technischer Beziehung ein Ignorant in der Musik. Aber ich habe mir jedenfalls die volle empfängliche Naivität darin bewahrt, die mir als Zuschauer im Theater naturgemäß schon öfters fehlt. Jedenfalls übt gute Musik stets eine mächtige Wirkung auf mich aus, die mich überrascht und die ich mir nicht recht erklären kann. Neue ungeahnte Stimmungen erwachen in mir. Alles erweitert sich u. ich freue u. wundere mich darüber wie ein Kind mit einem farbigen Kaleidoskop. […] ich glaube, daß volkstümliche Musikaufführungen dem Zweck der Volksbildung weit eher entsprächen als Theatervorstellungen, Bibliotheken … Musik verinnerlicht , befruchtet Seele u.Phantasie."
- Das Gedankenspiel von 1894 nicht nur Sprechtheater zu inszenieren, kehrt in einer Variante in einem Briefentwurf wieder, geschrieben 1931, anläßlich der Inszenierung von „Hoffmanns Erzählungen.“
- … ich glaube, daß volkstümliche Musikaufführungen dem Zweck der Volksbildung weit eher entsprächen …
"Orpheus in der Unterwelt"
- Im Neuen Theater am Schiffbauerdamm wird eifrig probiert … ganz ungewohnte Klänge kommen aus dem kleinen Orchestergraben, der eigentlich keiner ist, es geigt, es trommelt, es flötet, Koloraturen perlen durch den Raum … Max Reinhardt bereitet mit seinen Schauspielern die Abschiedsvorstellung vor, bevor er als Direktor ein paar Straßen weiter zieht – in das Deutsche Theater , Schumannstraße 5.
- Umschlagbild (Ausschnitt) für das Programmheft, Berlin Neues Theater. Entwurf: Emil Orlik
- „Orpheus in der Unterwelt“ von Jacques Offenbach setzt mit 49 Vorstellungen einen triumphalen Zwischenpunkt unter den furiosen Beginn seiner Karriere als Regisseur und Schauspieldirektor. Aber „Orpheus in der Unterwelt“ - eine Operette, eine „opéra bouffe/bouffon“, eine Mythentravestie, so bezeichnet sie der Komponist – in einem Sprechtheater ?
- Ich gehe zurück in die Anfänge des Regisseurs, in das Jahr 1893. Reinhardt tritt sein erstes professionelles Engagement an, im Volkstheater Rudolfsheim. Das Theater war Teil des Vergnügungsareals „Schwenders Colosseum“, ein sehr beliebter Vergnügungspark in Rudolfsheim-Fünfhaus in der Wiener Vorstadt. Rudolfsheim war Ende des 19.Jh. ein Arbeiterviertel sowie zahlreichen kleinen Handwerksbetrieben.
- Von 1880 – 1886 wohnte die Familie Reinhardt in Rudolfsheim, in der Schönbrunnerstraße 22 , d.i. heute Äußere Mariahilferstraße 150, - unweit von „Schwenders Colosseum“. In "schwenders Colosseum" wurde dem Besucher von der Spielhalle bis zum Tanzparkett, der Bierhalle bis zum Theater jede nur denkbare Unterhaltung geboten. Wollte er sich im Grünen entspannen, dann hatte er es nicht weit zu der weitläufigen Parklandschaft rund um das Schloß Schönbrunn. (Die heutige Parkanlage ist nur noch das "Herzstück" der ursprünglichen Anlagen.
- Das Vorstadttheater Rudolfsheim spielte alles, was unterhält, von der Klassik bis zur Operette; 1893 stand „Orpheus in der Unterwelt“ auf dem Spielplan. Die Besetzungsliste verzeichnet für die Rolle Merkur - Max Reinhardt/Goldmann. Anzunehmen, daß das Vorstadttheater keine erstklassigen Gesangskräfte engagiert hatte, sondern mit dem hauseigenen Personal besetzt hatte, das sang, tanzte, spielte. Die Anregung Operette mit Schauspielern zu besetzen könnte Reinhardt aus dieser eigenen Erfahrung von diesem Engagement in Rudolfsheim mitgenommen haben.
- "Orpheus in der Unterwelt", Jacques Offenbach. Max Reinhardt in der Rolle des Merkur
- Wien, Vergnügungspark Schwender: Volkstheater Rudolfsheim , undatierter Programmzettel
- „Alles ist nur Theater“ … für den Bühnenmenschen Reinhardt gibt es keine Genregrenzen. Wie der Puppenspieler, der an allen seinen Fäden zieht um – „die Puppen tanzen zu lassen“ – oder wie der Theaterdirektor in Goethes „Faust“ - greift Reinhardt nach allem, was seine Gestaltungsphantasie und seine Spiellaune aufblühen läßt – und wenn nötig, biegt er sich das Material zurecht. Doch bei der Durchsicht der Aufführungsdaten fällt eine merkwürdige Koinzidenz ins Auge: am 30. Dezember 1905 hatte in Wien, im Theater an der Wien eine Uraufführung stattgefunden, "Die lustige Witwe" von Franz Lehár und nach einem etwas zögerlichen Start trat diese "Witwe" eine bis dahin nie erlebten Siegeszug über die Operettentheaterbühnen an. Wollte der aufstrebende, erfolgsorientierte junge Theaterdirektor und Regisseur zu dieser neuen opulenten, sentimentalen Operettengattung ein Gegenmodell präsentieren ?
- Wenn Gottfried Reinhardt mit seiner Behauptung recht hat, daß Reinhardt "Musik als störend nur empfunden " ( ich höre Wilhelm Busch), dann hat er diesem Imperativ alles untergeordnet, Musik ausschließlich als Spielelement seiner Inszenierungen einzusetzen, wie bei seinen Sprechtheaterinszenierungen oder später bei den Pantomimen, dann zerbricht Reinhardt die angestrebte Verschmelzung von Wort und Ton, die Musiktheater intendiert. War "Orpheus in der Unterwelt“ – als Experiment initiiert, als eine „Offenbachiade“ mit Schauspielern besetzt, die singen, zu spielen? Er wagte den Versuch, die Rollen mit Schauspielern zu besetzen, so wie es das Libretto und die Komposition/Partitur als möglich erscheinen lassen. Die Behauptung von Gottfried Reinhardt - Musik als Störfaktor des theatralischen Geschehens - ist wohl eine sehr eigenwillige Interpretation, denn Reinhardt setzt - wo und wann immer es möglich ist - Musik ein.
- Zurück zu "Orpheus in der Unterwelt" im Neuen Theater 1906. Ganz ging dieses Konzept nicht auf. Die Rolle der Euridike verlangt einen leichten, hohen Koloratursopran (nicht einmal nach heutiger Definition würde man eine „Soubrette“ für die Besetzung wählen). Reinhardt mußte also - wollte er den Erfolg des Abends nicht verspielen und versingen - mit einer Sängerin besetzen; in seinem Ensemble gab es keine Darstellerin, die den sängerischen Anforderungen auch nur im entferntesten entsprochen hätte.
- Seine Wahl fiel auf einen jungen aufstrebenden lyrischen Sopran von der Dresdner Hofoper, Eva von der Osten. Sie kam aus einer Schauspielerfamilie, kannte die darstellerischen Anforderungen einer Rolle. Beide, Sängerin und Regisseur, sollten sich bei Uraufführung des „Rosenkavalier", 1911 in Dresden wieder begegnen.
- Ich habe in zeitgenössischen Berichten, Rezensionen geblättert: das Experiment mit Schauspielern Gesangspartien zu realisieren um eine Operette aus einem anderen Blickwinkel zu präsentieren – und nicht als "verkappte und verkleidete" Spieloper - wird nicht verkannt, aber nicht unbedingt positiv gewürdigt.
- "Orpheus in der Unterwelt", Skizze von Ernst Stern , 1.Bild.
- aus: Ernst Stern, Bühnenbildner bei Max Reinhardt, S.32
- „Orpheus in der Unterwelt“ verlangt den Darstellern der Hauptpartien, von Euridike war schon die Rede, einiges an sängerischem Können ab (Orpheus, Pluto, Jupiter, Amor, Styx). Auch wenn die Darsteller Gesangsstunden genommen haben, es reichte nicht. Die sängerischen Mängel wurden von der Kritik doch als sehr störend empfunden. Die Partie des Styx verliert an Wirkung, wenn die ironische , koloraturähnliche Diktion nicht perfekt dargeboten wird. Hans Pagay als Styx wurde dem keineswegs gerecht, so der allgemeine Tenor. Auch Alexander Moissi/Pluto, der tatsächlich über eine Singstimme verfügte, muß sich kritisieren lassen. Nur wenn Singen und Darstellen auch mit Sprechgesang rollendeckend zu bewältigen waren, gab es Zustimmung. Große Begeisterung dagegen für die szenische Realisierung, auch für szenische „Kniffe“, wie z.B. den Chor hinter einer Wolke im Olymp zu "verstecken", (s. die Abbildung. Die Dame im Abendkleid links ist Die Öffentliche Meinung, rechts steht Pluto/Aristeus im Frack (er sieht ein wenig aus wie eine schlechte Kopie von Johann Strauß) und zwischen beiden Orpheus?/Merkur? als Bauernjunge ? verkleidet!
- "Orpheus in der Unterwelt", Neues Theater, 13.Mai 1906
- 2. Bild: Im Olymp
- aus: Hugo Fetting, Max Reinhardt, Schriften. Berlin 1974, vor S. 65 sowie Boeser/Vatkova, Max Reinhardt in Berlin, Berlin 1996
- Bildbeschreibung bei Fetting: die Rolle des Ganymed(li. Oskar Sabo lt. Bildangabe) wird in der erweiterten Bearbeitung von 1922 für das Große Schauspielhaus genannt, u.zw. nur im Programmbuch; die nähere Rollenbezeichnung: Pikkolo
- Die Kritiker mäkeln, das Publikum jubelt, strömt in die Vorstellung.
- Die Kritik in der "Vossischen Zeitung " ist auch eine ausführliche Auseinandersetzung zwischen dem Oeuvre Offenbachs als Operettenkomponist, wie man es anno 1906 verstand und der Inszenierung von Max Reinhardt, die als Experiment erkannt – in dem Sinn „kann ich auch Musiktheater?“
- "Orpheus in der Unterwelt", Neues Theater, 13.Mai 1906. Bühnenentwurf von Ernst Stern für das Schlafgemach der Götter auf dem Olymp
- aus: Gusti Adler, ... aber vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen. Erinnerungen an Max Reinhardt
- Für den Theaterhistoriker : zahlreich die Hinweise auf Ausstattungs- und Inszenierungsdetails, die Reinhardt immer wieder – in Varianten, verbessert, erweitert – einsetzen wird, auffällig auch der Zug zu Pomp und Pracht, zur Übersteigerung als Ausdrucksmittel.
- ... Heute sehen wir in den wilden Späßen [ Offenbachs] nicht nur den Mutwillen, sondern auch eine Zug von Genialität und auch die musikalische Welt scheint geneigt, den übermütigen Hexenmeister [ Offenbach] , … der alle Taschen voll Talent hatte und mit diesem Reichtum Verschwendung trieb, anders zu werten als ehemals.
- Aber gerade in dieser veränderten Stellung … lag das Verhängnis der … Neuaufführung. … Programmatisch war ein großer Ulk vorbereitet … [doch] immer wieder meldete sich ein Respekt, der mit seinen Umständlichkeiten … das natürliche rasche Tempo gefährdete … . Man hatte viele Striche aufgemacht, sodaß die Farce … die Ausdehnung einer großen Oper erhielt ['''vier Stunden Dauer, Anm.d.Verf'''.].
- Der Text war neu redigiert worden … [aber] man hätte besser getan, die unverständlich gewordenen Scherze … zu beseitigen ['''z.B. Anspielung auf die Marokko-Konferenz, Anm.d.Verf.''']. … Zum Schluß des zweiten Aktes gab es einen wilden Göttercancan, der Zug in die Unterwelt, … flutete auf einer improvisierten Brücke über das Orchester weg ins Parterre hinein… . Aber zu diesem … Übermut wollte die viel zu prächtige und komplizierte, mit ernsthafter Romantik spielende Ausstattung nicht recht stimmen. Da gab es einen Himmel mit phantastischen Wolkenlagern, in die Sterne unmittelbar hineinleuchteten, ein Plutogemach mit bizarren Bildern im Totentanzgeschmack und im Kuppelsaal des Unterwelt-Banketts ein dämonisches Schattenspiel hinter den schwarzen Gittern – malerische Cappriccios, deren dämonischer Humor einen ganz fremdartigen Rahmen zu dem rationalischen Hohn der Parodie bildete … . Alles drängt in dieser Skizze ['''gemeint ist die opéra bouffe von Offenbach, Anm.d. Verf'''.] zum einfachen, treffenden , karikaturistischen Streich, nicht zur bizarren Romantik hin, und die verlotterte Götterwelt der Offenbachiade verliert ein Gutteil ihres Charakters, wenn ihre Kostüme in allzu großer Pracht entgegenschimmern … .
- Das Überwiegen des schauspielerischen Teils über den gesanglichen war vielfach unverkennbar. Ob es dem Geist der Offenbachiade entsprach, ist eine andere Frage. …
- Vossische Zeitung, 14.Mai 1906, Nr.233, Zweite Beilage
- „Orpheus in der Unterwelt“ so hat es Offenbach erdacht und komponiert, endet in der Unterwelt mit einem Bacchanal, mit dem „Galop infernal“ , der unerkannt als „Cancan“ durch die Literatur, die Gazetten etc. wandert. Getanzt mit Spitzenhöschen, Röcke und Beine werfen, so wie es eben die Touristen(und nicht nur diese!) vom Montmartre gerne sehen. WIE Offenbach das Finale erdacht, gespielt hatte, überliefert eine Zeichnung nach einem Gemälde von Gustave Doré. Alle, die Solisten, der Chor tragen völlig ver- rückte Kostüme und sie feiern ein Bacchanal unt er der Regie des Höllenfürsten Pluto
- aus: Alexandre Faris, Jacques Offenbach, S.70
- Musikalisch (kurz skizziert)ist der Galop infernal im 2/4 Takt, ein rascher um-pa, umpa-Rhythmus in Achteln, im Baß in Vierteln (1/4=2 1/8) also: um-pa –gegen um= ¼ (als pochender beat), Melodik in 4 oder 8er Gruppen. Die Inszenierung von „Orpheus in der Unterwelt“ wird Reinhardt bis Anfang der 20 Jahre immer wieder auf die Bühne bringen; in München, in Berlin, im Großen Schauspielhaus und bei Gastspielen in Dänemark und Schweden, den Bühnenverhältnissen angepaßt, in Übersetzung für die Gastspiele in Dänemark und Schweden. Grundlage ist die von ihm 1906 erarbeitete Fassung. Die im Nachlaß überlieferte notierte szenische Abfolge habe ich mit einer französischen CD-Einspielung von 1953 verglichen – es ist die gebräuchliche Spielfassung, wie sie in „Musik für alle“ für die Hausmusik vom Ullstein-Verlag gedruckt wurde . Das Copyrigth vermerkt 1911. Die Szenenfolge, eine Kurzfassung ohne Zwischenspiele und Textteile/Rezitative?, ist vermutlich nach der Reinhardt-Aufführung entstanden. (Der Copyright-Vermerk 1911 sagt nichts über das tatsächliche Erscheinungsdatum aus.)
- Einar Nilson, Komponist und ein langjähriger Mitarbeiter von Max Reinhardt, von Gottfried Reinhardt auch als Reinhardts Musikmanager apostrophiert, stellt sehr nüchtern fest, welchen Stellenwert und welche Rolle Reinhardt, der Sprechtheaterregisseur der Musik als Teil/Bestandteil eines Werkes, das er inszenierte zuordnete: Musik übernahm die Rolle des Funktionsträgers, illustriert, überhöht die Bildwirkung. Geräusche werden gleichwertig wie Musik eingesetzt. Donnern, Heulen o..ä. erzeugt Angst und Schrecken; ein Impromptu von Franz Schubert oder Frédéric Chopin versetzt den Zuschauer in Träumerei, Verliebtheit o.ä. – vergleichbar der Programmmusik oder der Filmmusik.
- Aus dieser Perspektive sei die Frage gestellt: hat Reinhardt Musik also nicht eigenständige Sprache gewertet, erkannt, was aber oder vielmehr wie stand er zum Musiktheater als Gesamtkunstwerk ? Kann man den Erinnerungen von Gottfried Reinhardt tatsächlich glauben ?
- Gottfried Reinhardt berichtet als Chronist der Arbeit seines Vaters. Das folgende Zitat betrifft „ Die Fledermaus“ , beschreibt die Arbeitsweise des Regisseurs Max Reinhardt mit „Musiktheater“: Der Akzent lag auf dem Schauspielerischen und das machte Änderungen in der Partitur notwendig, Melodien mußten ins Orchester verlegt werden (weil die Schauspieler den gesangstechnischen Anforderung nicht genügen konnten, z.B. Koloraturen oder andere musikalische Verzierungen singen, Melodien aber schon). Im übrigen erforderte der freie tänzerische und sprachlich-rhythmische Stil der Regie mehrere musikalische Einlagen(die nicht in der Partitur stehen).
- Musiker sind von Natur aus neugieriges Publikum, einige erzählen von ihren Eindrücken nach dem Besuch "Der Fledermaus".
- Übereinstimmend beschreiben sie, daß Reinhardt keine Rücksicht auf die Sänger nahm; er negierte (um es auf den Punkt zu bringen) die spezifischen vom Singen, vom Atmen und vom Musikalischen bestimmten Erfordernisse der Sänger. Er , Reinhardt, gab den Ablauf der darstellerischen Gestaltung vor, bestimmte die Bewegungsabläufe, die Stellungen usw. ; vermutlich führte dies immer wieder zu Konfliktsituationen.
- "Er nahm der Musik das Dominierende, das Störende“ .
- Wenn Gottfried Reinhardt mit seiner Einschätzung recht hat, warum aber inszenierte Reinhardt - in Abständen zwar - immer wieder Musiktheater?
- Max Reinhardt, im Widerspruch zu sich selbst, an Berthold Held vom 21. August 1912
- (Anlaß für dieses sehr ausführliche Schreiben voller technischer u.a. Details aus dem hier zitiert wird, ist das Gastspiel "Das Mirakel", Wien, Rotunde 1912. "Das Mirakel" ist eine Pantomime von Karl Vollmoeller, Musik von Engelbert Humperdinck)
- ... Man vergesse den Riesenraum der Rotunde nicht und daß die Musik das Einzige ist, was an diesem Abend gehört werden soll. ... Ich habe schon ... angedeutet, daß ... das Ganze als Oratorium wie die "hl.Elisabeth" von Liszt (die 1915 in der Berliner Volksbühne aufgeführt wurde) besonders einzuführen ist. Die Musik muß unantastbar, und ich muß das Wort immer wieder brauchen, außergewöhnlich sein . ...
- (Die Datierungsdivergenz geht zu Lasten des Herausgebers Hugo Fetting: der Brief ist mit 21. August 1912 datiert, die Aufführung des Oratorium "Die Legende von der hl. Elisabeth von Franz Liszt an der Berliner Volksbühne war am 17.11.1915, vgl. Anm. 133, S. 471).
- An einem aber besteht kein Zweifel: Reinhardt spielte genußvoll mit der „Offenbachiade“, vor allem bei „Orpheus in der Unterwelt“, bei der "Fledermaus"; bei der „Schönen Helena“ gelingt dies nicht wirklich.
- Was ist eine Offenbachiade: Spiel im Spiel, das Spiel mit der Maske (jeder trägt eine Maske auch wenn er keine reale Maske trägt); die Inversion, denn nichts ist so wie es scheint – Umkehrung einer Realität in die Irrealität. Gepaart mit der Lust am Schaugepränge, an der Illusion … ein schwereloses, unterhaltsames Spiel, doch nie nur Unterhaltung an sich, ironische – satirische Kritik am Zeitgeschehen, an den Zeitgenossen. In „Orpheus in der Unterwelt“ geht es um außereheliches Vergnügen aus Langeweile, Frustration; Orpheus ist ein langweiliger Konservatoriumsprofessor, der auch noch komponiert und mit seinen Kompositionen Euridike, seine Frau, quält, worauf sie sich anderweitig – als Revanche – vergnügen will.
- In der „Schönen Helena“ geht es nur noch um Sex, Liebe und Vergnügen. Musikalisch ist „Orpheus“ eher ein Pasticcio, mit musikalischen Zitaten, Anspielungen auf Volkslieder u.a. Lieder (z.B. Zitat der „Marseillaise“ beim Aufstand der Götter), Komponisten – Verstorbene wie Zeitgenossen (z.B. Meyerbeer, Rossini).
- Reinhardt verstand es hervorragend erfolgreiche Inszenierungen gewinnbringend weiter zu verwerten - er war darin seiner Zeit weit voraus - als Gastspiel, meist mit erweiterten, veränderten Neueinstudierungen, gelegentlich sogar Neuinszenierungen.
- Nach der erfolgreichen Aufführungsserie von 1906 brachte Reinhardt im Theater des Westens eine Serie zur Aufführung und zehn Jahre später folgte die nächste erfolgreiche Serie. Die zehnjährige Unterbrechung war zeithistorischen Ereignissen geschuldet. Der Erste Weltkrieg, aus dem Deutsche Kaiserreich war die Weimarer Republik hervorgegangen. 1920 hatte Reinhardt sich von seinem Berliner Theaterimperium als Direktor getrennt um nur noch zu inszenieren. Teil dieses Theaterimperiums war das Große Schauspielhaus; als Großraumbühne, Massentheater hatte sich der Raum für Sprechtheaterinszenierungen als ungeeignet erwiesen; die schwierigen Zeiten verlangten nach Unterhaltung. Reinhardt griff zurück auf die Inszenierung des "Orpheus in der Unterwelt" von 1906.
- Das Resultat war eine zur Revue tendierende erweiterte Fassung in der Neo-Rokkoko -Ausstattung von Max Rée. Der Text , die Musik wurden neu bearbeitet, es wurden neue Rollen etabliert, die die Offenbach'sche Komposition nicht kennt. Ein Beispiel nur: Die Einheit der Figur Pluto/Aristeus wurde aufgebrochen, es gab nun zwei Rollen. Aristeus - im Stile Offenbach'scher Musik im Rokkokopasticcio; dramaturgisch gibt es dabei allerdings das "kleine" Verwandlungsproblem des Aristeus beim Tod der Euridike sich in Pluto zu verwandeln; die Maske zu wechseln - denn nichts ist so wie es scheint. Es entfällt ein wesentliche Spielelement der Offenbachiade. Die Breitwandbühne des Schauspielhauses bot allerdings ausreichend Raum für Massenszenen, in der Götterwelt, beim Bacchanal in der Unterwelt .
Über die Premiere am Silvesterabend 1921 im Großen Schauspielhaus schreibt Alfred Thienemann, Komponist, Dirigent und Rezensent beim Berliner Tageblatt eine einfühlsame und ausführliche Rezension:
- Offenbach ist Max Reinhardts stille Liebe. Er bildet für ihn ein Problem, dem er immer wieder mit all seiner schöpferischen Phantasie, seinem massenbändigendem Regietalent und dem ihm angeborenen Sinn fürs Große und Imposante beizukommen sucht. Schon einmal vor Jahren ( 1906, Anm.d.Verf.), gab er uns (Neues Theater) Meister Jacques Götterkomödie im kleineren Rahmen neu gewandet. In Kopenhagen errang er damit so großen Beifall, daß ihn die königliche Oper in Stockholm … einlud. Nun hat er auch uns in Berlin „seinen“ Orpheus sehen und hören lassen, so wie „er ihn versteht“. Und daß er ihn von Grund aus versteht, bezeugte die in allen Teilen prächtige Silvesteraufführung des Werkes im Großen Schauspielhaus. … Er hatte sie ganz aufs Burleske gestellt. Gelegentlich allzusehr. So zum Beispiel, wenn Hans Styx am Dirigentenpult auftaucht und zu seinem Arkadischen Prinzenlied selbst den Takt schlägt. Doch nahm man diese und manche andere Übertreibung in dem überzeugenden Gefühle hin, einem von Meisterhand inszenierten, laut lachenden Possenspiel gegenüberzustehen, das in übermütigster Laune an Auge und Ohr vorübertollte.
- Am Auge! Ihm boten sich farbenfrohe Bühnenbilder … Am Ohr! Nichts von den Schönheiten der Musik ging verloren. Selmar Meyerowitz leitete das Ganze mit hinreißendem Temperament … Er hatte neben sonstigen kleinen Offenbach'schen Zutaten, einige Nummern aus der späteren französischen Bearbeitung des Autors (damit ist die zur Féerie erweiterte Fassungvon 1874 gemeint, z.B. die Sprechrolle der Öffentlichen Meinung wird zum Melodram. Anm.d.Verf.) zugefügt. …
- Die sängerischen Leistungen erreichen hohes Niveau, werden hervorgehoben; die eher dem Sprechgesang angenäherten Darstellungen durch Schauspieler ebenso gewürdigt.
- … Max Pallenberg war Jupiter. Äußerlich nicht ganz die imponierende Gestalt des Göttervaters (Napoleon war ... klein) … Er sagor. Nicht einmal so schlecht … Amüsant die Anfangsszene des zweiten Bildes: die Ankunft (durch den Zuschauerraum) der nachtbummelnden Götter vor dem Himmeltor und der rasende Höllenzug – Cancan von der Bühne durchs Parkett hindurch. …
"Die schöne Helena"
„ Die Schöne Helena“ hat Offenbach musikalisch „befreit“, er hat an musikalischer Ausdruckskraft gewonnen (das soll genügen, alle weiteren Details findet man in der einschlägigen Literatur). Anders als im „Orpheus“ – die Verführung setzt die Handlung erst in Gang – ist in der „Schönen Helena“ die Verführungsszene , d.i. die Traumszene, das Duett zwischen Paris und Helena. „Es ist ein Traum …“ wird zum Höhepunkt und Drehpunkt der Handlung. Und sie ist im Sinne Offenbachs keine Offenbachiade. Sie ist ein Spiel um Sex und Liebe mit etwas Zeitsatire.
Erich Mühsam bekommt von Max Pallenberg „ein prächtiges Freibillett“ in dem fast ausverkauften Haus und notiert in seinem Tagebuch (Heft 5) am 16.Juli 1911:
- … Die "Schöne Helena" von Offenbach ist unter Reinhardts Regie zu einer ganz köstlichen Humorleistung geworden. Man mag gegen Reinhardt sagen was man will, er ist doch der einzige, der Theater spielen kann, und das ist wohl sein wertvollstes Verdienst, daß er einem wieder ins Bewußtsein gebracht hat, daß Theater Theater und nicht Wirklichkeitskopie ist. Er arbeitet mit Farben, Bewegung, Tönen, Abstimmungen – und so gehört es sich auf der Bühne. Es gab Bühnenbilder (Ausstattung von Ernst Stern), die ganz blendend schön waren. Die Offenbach'sche Musik klang herrlich durch den Raum, eine so einschmeichelnde, tänzerische, zierliche Musik, wie sie wohl nie wieder geschrieben werden wird. Und gespielt wurde köstlich. Der Menelaus von Pallenberg wird mir in seiner Komik unvergesslich sein. Den Agamemnon gab Zettl in meiner Maske, sogar der Kneifer fehlte nicht, blos war er viel länger als ich. Die Helena spielte Mizzi Jeritza , die eine sehr schöne Stimme hat, den Calchas Gustav Charlé sehr lustig. Rudolf Ritter sah als Paris sehr gut aus und sang recht schön. … Die Inszenierung war ganz glänzend. Sehr wirksam ein Steg, der durch den Zuschauerraum auf die Bühne führte, und von dem aus – also mitten durch die Zuschauer hindurch ein großer Teil der Mitwirkenden auftrat.. Lustige Einfälle in hellen Haufen. Eine Glanzleistung Reinhardts, deren Eindruck sich in stiller Selbsteinkehr sicher kein Snob entzieht. …
Erich Mühsam ist kein berufsmäßiger Theaterrezensent, sondern Schriftsteller, er notiert spontan und kreativ seine Eindrücke … Eine Glanzleistung Reinhardts, deren Eindruck sich in stiller Selbsteinkehr sicher kein Snob entzieht. … und überliefert ein sehr lebendiges, fast greifbares Theatererlebnis.
Der Steg durch den Zuschauerraum , der ihn so sehr beeindruckt, hat Reinhardt schon in der Inszenierung des „Orpheus in der Unterwelt“ 1906 als „Überraschungseffekt“ eingesetzt – in „Sumurûn“ 1910, von Reinhardt erneut verwendet, wird in der einschlägigen Literatur als „japanischer Blumensteg“ definiert.
Für „Die schöne Helena“ von 1911 und später liegt kein Material im Nachlaß Reinhardt, bis 1931 - wie beim „Orpheus in der Unterwelt“: kein Zensurexemplar (vor 1918, danach wurde die Zensur abgeschafft), kein musikalisches Material.
Aber ähnlich wie beim „Orpheus in der Unterwelt“ gibt der Ullstein – Verlag eine für Klavier arrangierte Fassung mit Text für die Hausmusik in der Reihe „Musik für alle “ heraus, mit dem Copyright Vermerk 1911. Ob dieses Notenmaterial nach der Vorlage der Reinhardt-Inszenierung, der dazugehörigen Textbearbeitung und musikalischen Fassung zusammengestellt wurde, verrät der Begleittext leider nicht.
"Die schöne Helena", München Künstlertheater 1911, 2. Akt, in der Mitte auf dem Thron: Menelaus (Mx Pallenberg), li. : Helena (Maria Jeritza?), re.: Kalchas
Reinhardt bleibt bei der Strategie der Verwertung einer erfolgreichen Inszenierung, die "Helena" aus München 1911 geht auf Gastspielreise, u.a. auch nach Wien in das Theater in der Josefstadt.
Ende 1912/Anfang 1913 zeigt das Theater am Nollendorfplatz eine „Helena“, so die Angaben (bei Huesman, Welttheater Reinhardt) die Replik einer Reinhardt-Inszenierung ist, mit Fritzi Massary als Helena und Max Pallenberg als Menelaus .
Exkurs : Theaterimperium Reinhardt in Berlin
Wie schon angesprochen : 1920 gibt Max Reinhardt die Direktionsgeschäfte seiner Berliner Theater auf, die Leitung übernehmen wechselnde Direktoren, die Geschäftsführung verbleibt bei Edmund Reinhardt. 1929 stirbt
1929 stirbt Edmund Reinhardt und Max Reinhardt übernimmt erneut die „Oberhoheit“ über seinen Berliner Theaterimperium (Deutsches Theater und die Kammerspiele, Komödie und Theater am Kurfürstendamm , Großes Schauspielhaus).
Das Große Schauspielhaus ist Teil der Deutsche Nationaltheater AG (DNT) Die DNT AG, d.s. Max Reinhardt und 59 Aktionäre, Vorstand und Vorsitz Edmund Reinhardt, erwirbt 1918 das Areal des Zirkus Schumann (Am Zirkus 1, Berlin-Mitte), der als Großes Schauspielhaus umgebaut wird, als Spielstätte für das Massentheater „Volkstheater“ genutzt werden soll – für die Reinhardt’schen Großraum-Inszenierungen (nach seiner Idee eines „Volkstheaters“, vgl. dazu den Brief an Berthold Held von 1894).
Den Umbau übernimmt Hans Poelzig , 1919 ; das neue Haus wird von den Berliner spöttisch-liebevoll „Tropfsteinhöhle“ getauft.
1924 verpachtet die Theaterdirektion Reinhardt das Schauspielhaus an Erik Charell. Erik Charell hatte Reinhardt auf dessen ausgedehnter Tournee „Mirakel “ ( sie startet in New York , 15.1.1924) in den USA begleitet; er nutzte diese Zeit auch um sich ausführlich mit dem amerikanischen Revuetheater zu beschäftigen. Nach der Übernahme von Reinhardt führte Charell das Große Schauspielhaus als Revuetheater und Operettentheater weiter, bis er 1930/31 aufgeben mußte. Die Ära Charell endet mit dem Serienerfolg der Operette „Im weißen Rössl am Wolfgangsee“ (Ralph Benatzky u.a.). Dieser Publikumserfolg konnte das sich abzeichnende finanzielle Desaster nicht aufhalten. Die Gründe für den finanziellen Niedergang (der betraf auch andere Revuetheater) sind vor allem in innerbetrieblichen Abläufen sowie einem enormen Kostenaufwand für die opulenten Ausstattungen zu finden. (Mehr dazu in der einschlägigen Literatur, s. dazu vor allem in Wolfgang Jansen, Glanzrevuen der Zwanziger Jahre).
Nach dem Ende der Ära Charell übernimmt Reinhardt erneut die Direktionsgeschäfte und bespielt das Große Schauspielhaus für eine kurze Zeit wieder in Eigenregie.
Am 19. April 1932 heißt es „Bühne frei“ für die „Schöne Helena“ im Großen Schauspielhaus als „Burleske Operette“ für 43 Vorstellungen.
Doch bevor die „Schöne Helena“ den Weg in das Große Schauspielhaus findet, muß sie einige Umwege in Kauf nehmen.
Zunächst startet sie erfolgreich am 15.Juni 1931 im Theater am Kurfürstendamm. Als Buffo-Oper in zwei Teilen und lief mit 144 Vorstellungen bis zum 15. November 1931.
- … gleich zu Anfang - der „Schönen Helena“ - wurde zu den Klängen der Ouvertüre auf der Vorderbühne aus einer Kiste (über der Versenkung) tänzerisch ein Arsenal homerischer Klamotten gefischt … die Requisiten des Abends - das Spiel kann beginnen … das ist der Reinhardt’sche Auftakt .
- … Die alabasterne Schönheit und glockenreine Stimme der Novotna verlieh der Heldin … Noblesse und Lyrik, aber keinen Sex-Appeal. Hans Moser war ein zwerchfellerschütternder Menelaus, aber kein KÖNIGLICH komischer.
- … Ein Meistergriff: das Urteil des Paris – nicht die ursprüngliche Arie, keine Erzählung, sondern aufgelöst in ein Quartett mit den drei visionär erscheinenden Göttinnen – mit einem Knalleffekt: das Striptease der aus dem Schaum des Berliner Landwehrkanals geborenen La Jana. …
- Gottfried Reinhardt ist, auch wenn er voller Bewunderung Details hervorhebt, nicht wirklich zufrieden mit dieser Aufführung im Theater am Kurfürstendamm; seiner Meinung nach sei sie „zerflattert“, weil zu episodisch, der große alles verbindende Bogen hätte gefehlt; auch die Besetzung war seiner Meinung nach nicht gut gewählt .
- Die musikalische Bearbeitung lag in den Händen von Erich Wolfgang Korngold. Wie diese Bearbeitung geklungen hat, ich bleibe doch lieber beim Konjunktiv, haben könnte, denn es gibt nur einen Ausschnitt der Szene zwischen Paris und Helena, das Traumduett, auf Schellackplatte mit Jarmila Novotna(Helena)und Gerd Niemar(Paris), 1932 in Berlin produziert. Das Eingangssolo des Paris läßt Offenbach ahnen – mit den Koloraturparaphrasen. Offenbach setzte den Koloraturgesang als Stilmittel ein – nicht erst mit der „Schönen Helena“. Stilistisch jedenfalls klingt das Duett so als sängen beide ein Duett von Franz Lehàr.
- Charles B. Cochran, der berühmte englische Theatermanager „and starmaker“ lädt Max Reinhardt ein, die „Schöne Helena“ im Adelphi-Theatre, London zu inszenieren; dafür muß allerdings eine völlig neue Textfassung erstellt werden, die von A.P.Herbert geschrieben wird auf der Basis der Fassung von Egon Friedell und Hans Sassman. Außer dem Plot ist von der Offenbach’schen Opéra bouffe wohl kaum noch etwas übrig geblieben. (Textvergleiche mögen andere durchführen, jedenfalls liest sich die englische Fassung sehr puritanisch. In dem von ihm geschriebenen neuen dritten Akt kehrt das königliche Paar Helena und Menelaus nach Sparta zurück, friedlich vereint, aber genervt, routiniert als "ganz altes Ehepaar". Der Krieg ist vorbei; der graue alte Alltag hat uns wieder! Offenbachs Komposition wurde von Erich Wolfgang Korngold für London neu bearbeitet; da es keine überliefertes musikalisches Material gibt, bleibt es bei dem Hinweis, eine Einschätzung wie diese "Helena" geklungen hat, was noch Offenbach und was Korngold , darüber geben die Rezensionen keine Auskunft. Mancher Kritiker stellt die (provokante?, vielleicht auch sehr zutreffende) Frage: Was soll uns dieses altmodische Stück! Zustimmung gab es für die opulente Ausstattung von Oliver Messel und für den Star Evelyn Laye (von Charles B. Cochran lanciert), die die Helen(a) gab.
- Dennoch: Charles B. Cochran, ständig auf der Suche neuen, erfolgsträchtigen Revuen, Musicals, Varietés, bietet Max Reinhardt ein weiteres Offenbach-Projekt an: „Les Brigands“ /Die Banditen, eine dreiaktige opéra bouffe, die 1869 im Théâtre Varietés, Paris, uraufgeführt worden war und noch im gleichen Jahr in London unter dem Titel „Falsa Cappa“.
- Die Londoner Fassung der „Schönen Helena“ übersiedelte in das Große Schauspielhaus, Premiere war am 19. April 1932. Für die Textbearbeitung, präziser Neufassung des Textes (der alten Übersetzung) liegen im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek mehrere Typoskripte, laut Titelblatt als „Regiebuch“ Max Reinhardt bezeichnet. Es sind unkorrigierte, vor allem undatierte Textexemplare im Teilnachlaß Hans Sassman. Kein Regiebuch von Max Reinhardt; vielleicht sollte das Typoskript die Vorlage für ein Regiebuch Max Reinhardts werden, in das der Regisseur dann akribisch seine Anweisungen – wie gewohnt eintragen würde und es mit seinem berühmten Signet als endgültig zeichnen.
- Das autographe musikalischen Material von Erich Wolfgang Korngold (Bearbeitung für die Aufführung von 1931, oder zu späteren, der Londoner Bearbeitung von 1932), ist bisher nicht nachweisbar. Für die New Yorker Fassung „Helen goes to Troye“ (auf die ich nicht eingehen werde) von 1943/44 liegt das Material gedruckt vor: gedruckt erschienen bei Chappel & Co. Das dazugehörige autographe Material in der Public Library, New York.
- 1928/29 hält sich Reinhardt wieder einmal in Wien auf und lädt Erich Wolfgang Korngold zu sich ein ins Theater in der Josefstadt; er möchte ihm anbieten für seine Inszenierung die musikalische Bearbeitung und Leitung zu übernehmen. Aber Korngold kann dieser Idee leider gar nichts abgewinnen und lehnt ab. Doch Reinhardt läßt nicht locker.
- Lucie Korngold, die Frau des Komponisten, erinnert sich:
- … Max Reinhardt ließ anfragen , ob Erich „La Vie Parisienne“ von Offenbach für das Deutsche Theater in Berlin bearbeiten und dirigieren wolle. … um nicht unhöflich zu erscheinen , ging er doch zu Reinhardt ins Theater in der Josefstadt; er kam mit einem amüsiert-verlegenen Lächeln und einem Kontrakt von dort zurück. Er hatte Reinhardt seine Zweifel an „La Vie Parisienne “ mitgeteilt und die Sache damit für erledigt gehalten . Der erwiderte aber nur ruhig: Was würden Sie sonst vorschlagen? Darauf Korngold: … warum machen Sie nicht die Fledermaus ? …
- Korngold, der Spätromantiker, hatte – so steht zu vermuten – zu der leichtfüßigen, durchsichtigen, ironischen Eleganz der Offenbach‘schen Musik keinen wirklichen Zugang. Johann Strauß und dessen wiegende Melancholie lagen ihm da wohl näher. Entre parenthèse: Vielleicht spielte nicht zuletzt auch seine große Nähe zur Witwe Adele Strauß mit. Ich habe mir die Frage gestellt, was Reinhardt an „La Vie Parisienne“ so fasziniert haben könnte, daß er dieses Projekt wie einen unerfüllten Traum immer wieder versuchte zu realisieren, zu inszenieren. Theaterpraktisch: die Story, (Musik war für Reinhardt nur „Illustration“, kein realer Mitspieler), mit vielen größeren und kleineren Ensembleszenen – vom kammermusikalischen Quartett bis zur Massenszene , mit denen es sich reizvoll spielen ließ. Anders als im „Orpheus“ oder in der „Schönen Helena“ – in beiden gibt es die noch einigermaßen klaren Trennung zwischen Solo, Duo und Ensemble. Vielleicht auch ein wenig Nostalgie, in Erinnerung an den eigenen Beginn in Berlin, einer Stadt im Aufbruch – und für Reinhardt der Aufbruch ins Leben, in seine Theaterträume. „La Vie Parisienne“ spielt in einem Paris der Aufbruchsstimmung – mit der Projektion auf Zukunft, ihr Symbol ist die Eisenbahn. „ La Vie Parisienne“ wurde komponiert, als Hausmann auf Befehl Napoleon III. aus dem mittelalterlichen Paris eine moderne Großstadt werden ließ – so wie wir es heute kennen – mit einer perfekten Infrastruktur (z..B. Métro), Kanalisation, breiten Straßen und Plätzen, Kaufhäusern, viel Grün … Wollte Reinhardt mit dieser Regie vielleicht seine eigenen Erfahrungen, Beobachtungen widerspiegeln, verarbeiten, als er 1894 nach Berlin, in die Stadt des Aufbruchs, kam?
- Doch der Wunsch blieb ein Wunschtraum … Reinhardt nahm den Vorschlag von Erich Wolfgang Korngold an, statt „La Vie Parisienne“ zu inszenieren, die „Fledermaus“ herauszubringen. Es ist müßig nun zu spekulieren, welche Beweggründe ihn zu dieser Entscheidung geführt haben. Eines aber läßt sich mit Sicherheit sagen: die „Fledermaus“ kam als „Offenbachiade“ über die Rampe .
- Gottfried Reinhardt behauptet zwar nach der Premiere
- ... Reinhardt nahm der Verknüpfung von begnadeter Musik und billigem Schwank die Zufälligkeit. Er nahm dem Schwank das Billige und der Musik die theaterfeindliche Vormachtstellung. …
- Da hat Gottfried Reinhardt wohl so einiges mißverstanden. Schon seit der Antike gab es keine Theater-Aufführung ohne Musik; die Renaissance wollte das antike Theater "neu erschaffen" - das Resultat war - sehr banal erklärt "Oper" - wie gesagt, Gottfried Reinhardt hat da wohl etwas grundsätzlich mißverstanden.
- Die Textvorlage zur „Fledermaus“ stammt von zwei französischen Librettisten, die zahlreiche Libretti für Offenbach geschrieben haben: Henri Meilhac und Ludovic Halévy, nach einem deutschen Lustspiel „Das Gefängnis“ von Roderich Benedix. Daraus wurde im französischen Lustspiel „Le Reveillon“ . Le Reveillon bezeichnet im Französischen die Weihnachtsfeiertage bis zum Jahreswechsel (vergleichbar dem italienischen „cappodanno“). Der Plot der „Fledermaus“ , den Karl Haffner und Richard Genée aus dem französischen Libretto geformt haben, könnte von Offenbach sein. – Nichts ist so, wie es scheint.
- Lucie Korngold erinnert sich :
- Die Partitur des Werkes blieb unberührt. Was hinzukam – kleine Szenen, alles von Strauß – begleitete Erich im Orchester vom Klavier aus. Reinhardt war unerschöpflich im Erfinden von Versen, die bald als Rezitativ, bald als Gesangsnummern sich dem Werke einfügten. Erich fand für ihn die passenden Straußwalzer, oft nur ein paar Takte. … Was stets Reinhardts Bestreben gewesen war: das Publikum mit einzubeziehen, eine Brücke zwischen Bühne und Zuschauerraum zu bauen, hier hatte es die höchste Vollendung gefunden ...
- Max Reinhardt probiert
- Es gibt aber auch gegenteilige Berichte von Musikern nach dem Besuch einer Vorstellung der „Fledermaus“: Reinhardt nahm keine Rücksicht auf die Sänger und ihre spezifischen vom Singen wie vom Musikalischen bestimmten Erfordernisse, das Spieltechnische stand absolut im Vordergrund.
- Dennoch: Der Erfolg der „Fledermaus“ füllte die Kasse, das Publikum strömte ins Theater. Die Krise der Theater, die um 1930 ausbrach, lag – scheinbar – noch in weiter Ferne. Erste Anzeichen wurden aber bereits spürbar. Erik Charell gab wegen finanzieller Probleme trotz des großen Erfolgs mit dem „Weißen Rössl“ auf; Reinhardt übernahm kurzfristig wieder die Leitung des Hauses – und mußte nun das Große Schauspielhaus bespielen. Diesen Riesenraum mit den 3000 Sitzplätzen zu füllen – aber mit welchem Stück? Seine Wahl fiel auf „Hoffmanns Erzählungen“.
"Hoffmanns Erzählungen"
- Nach der erfolgreichen Uraufführung in Paris 1881 (101 Aufführungen) unterbrach der Ringtheaterbrand in Wien, vom Dezember 1881 den Siegeszug der Oper. Erst mit der Jahrhundertwende wird das letzte Werk von Offenbach zu einer der am meisten aufgeführten Opern.
- 1905 erreichte Hans Gregor (der spätere Direktor der Hofoper, Wien) mit „Hoffmanns Erzählungen einen Serienerfolg von 400 Aufführungen in der Komischen Oper an der Weidendammer Brücke. Seit 1915 stand das letzte Werk von Jacques Offenbach auch im ständigen Repertoire der Hofoper/Staatsoper Unter den Linden. 1929 hatte die Kroll - Oper eine zeitgenössische Interpretation mit Bühnenbildern von Moholy-Nagy herausgebracht.
- In den 20er Jahren begann sich außerdem die Wertschätzung für Jacques Offenbach ganz allgemein zu ändern, ebenso - quasi parallel wurde auch das Interesse am Werk von E.T.A. Hoffmann zunehmend lebendiger.
- Anton Henseler hatte in Bonn über den Komponisten Offenbach promoviert; danach publizierte er die erste fundierte, dokumentarisch belegte Biographie des Komponisten 1930. Offenbach wurde nicht länger als "nur" Operetten schreibender Musiker gewertet; das Opernwerk von Offenbach wurde neu gesehen, und seine letzte Oper, das Fragment "Hoffmanns Erzählungen" wurde zum Prototyp DER romantischen Oper. (Es gibt Zeitgenossen, die "Hoffmanns Erzählungen" als „Schaueroper“ klassifizieren vergleichbar dem „Vampir“ von Heinrich Marschner – vergessen brei ihrer Einschätzung dabei aber auf das halbe Jahrhundert Zeitabstand sowie den anderen Kulturraum).
- Egon Friedell:
- … Sein großer Zaubermeister ist Jacques Offenbach, der zuerst mit Einaktern hervortrat … In diesen Werken , erlesenen Bijous einer komplizierten Luxuskunst, ist, ähnlich wie dies Watteau für das Paris des Rokoko vollbracht hat, der Duft der Ville des Lumière zu einer starken haltbaren Essenz destilliert, die aber um vieles beißender, salziger, stechender geriet. Sie sind Persiflagen der Antike, des Mittelalters, der Gegenwart, aber eigentlich nur immer der Gegenwart, und im Gegensatz zur Wiener Operette, die erst eine Generation später ihre Herrschaft antrat, gänzlich unkitschig, amoralisch, unsentimental, ohne alle kleinbürgerliche Melodramatik, vielmehr von eine rasanten Skepsis und exhibitionistischen Sensualität , ja geradezu nihilistisch. Daß Offenbach, unbekümmert um psychologische Logik und künstlerische Dynamik, eigentlich nur „Einlagen“ bringt, wie ihm oft vorgeworfen worden ist, war ebenfalls nur der Ausfluß eines höchsten, nämlich ästhetischen Zynismus, einer Freigeisterei und Selbstparodie, die sogar die Gesetze der eigenen Kunst verlacht. Daß er aber auch ein tiefes und zartes Herz besaß, würde allein schon die Barcarole seines letzten Werkes beweisen, der „Contes d’Hoffmann“, in denen die deutsche Romantik der Vorlage, durch die Raffinade der Pariser Décadence verkünstelt und veredelt, ein wundersam ergreifendes Lied anstimmt. Hier klagt der Radikalismus des modernen Weltstädters um die verschwundene Liebe: die Frau ist Puppe oder Dirne; die wahrhaft liebt, eine Todgeweihte. Es ist, als ob Offenbach in seinem Abschiedsgesang den Satz aus dem Tagebuch der Goncourts instrumentiert hätte:
- „Ah, il faut avoir fait le tour de tout et ne croire à rien. Il n’y a de vrai que la femme.“ Und selbst dieser letzte Satz entpuppt sich als trügerisch. …
- Egon Friedell, Das Zeitalter Offenbachs, in: Hoffmanns Erzählungen. Ein Sonderdruck der deutschen Buch-Gemeinschaft anläßlich der Max Reinhardt-Inszenierung von Offenbachs Hoffmanns Erzählungen im Großen Schauspielhaus, Berlin. Berlin o.J., S. 68 ff.
- Bevor ich mit Reinhardt beginne, muß ich etwas weiter ausholen, die Werkgeschichte von "Hoffmann's Erzählungen" kurz skizzieren, damit die Einwände, Argumente zur Reinhardt-Inszenierung transparent werden.
- Zur Einstimmung in das Folgende ein Zitat aus dem quellenkritischen Bericht von Fritz Oeser für den Klavierauszug, Kassel 1978, Ed. Alkor:
- … Offenbach hinterließ „Hoffmanns Erzählungen „ unvollendet. … Keine
- Druckausgabe gibt Offenbachs Willen und Absicht wieder, weder der Erstdruck von 1881, noch die am weitesten von ihm abweichenden Editionen nach 1907. …
- Der französische Brauch, im ersten gedruckten Klavierauszug eine Oper so zu veröffentlichen, wie sie dem Uraufführungspublikum präsentiert worden war, hat diese Eingriffe [Bearb.etc. Anm.d.Verf.] in die Werksubstanz zementiert …
- Erst 1905 kam durch die Initiative Hans Gregors an der Komischen Oper Berlin eine gegenläufige Unternehmung in Gang: der Versuch, Lücken vor allem im 4. Akt auszufüllen und Fehlendes zu ergänzen. …
- Choudens bringt 1907 eine „Cinquième Edition“ (mit den Veränderungen, Kürzungen etc.) heraus, es folgt basierend auf dieser Ausgabe dann die deutschsprachige Edition bei Peters , Leipzig. …
- 1905, Berlin Komische Oper: Hans Gregor inszeniert „Hoffmanns Erzählungen gemeinsam mit Max Morris. Basis für die Inszenierung ist die Fassung von 1904, die Raoul Gounsbourg und André Bloch für Monte Carlo erarbeitet haben. Raoul Gounsbourg leitet die Oper in Monte Carlo.
- André Bloch bearbeitet eine ältere Fassung, erschienen bei Choudens, fügt apokryph neue Teile und damit auch neue Musik ein, wie z.B. die berühmte Spiegelarie „Scintille diamant“ . Die Musik (der Text wird von Pierre Barbier, Sohn des Librettisten beigesteuert) wählt Bloch aus „Le voyage de la lune“.
- Eigentlich haben die Bearbeiter, und dies bezieht sich nicht nur auf die beiden genannten, sich das „Prinzip Offenbach“ zu eigen gemacht. Offenbach schöpfte bei Bedarf aus dem unendlichen Fundus seiner komponierten Operetten, opéra comique oder bouffes, wenn es die unmittelbare Bühnenpraxis verlangte, daß gekürzt, gestrichen, erweitert, umgestellt werden mußte, transponiert wurde, wenn es die Stimmlage eines Protagonisten verlangte, wenn Musik fehlte, wurde eben dazu komponiert – und das alles oft noch knapp bevor der Vorhang zur Premiere hochging . ... Aber auch nach der Premiere wurde weiter gefeilt ...
- Das berühmteste Beispiel für diese Arbeitsweise ist die „Barcarole“. Eigentlich ist die Melodie das Lied der Feen aus der erfolglosen Oper „Die Rheinnixen“, 1864 an der Wiener Hofoper als Auftragswerk uraufgeführt (anstelle von „Tristan und Isolde“). Offenbach wollte diese wunderbare Melodie nicht in seinem Noten-Fundus verschwinden lassen; sie wurde zur Eingangsmusik für den Giulietta-Akt.
- Der Antonia - Akt, so hatte es Offenbach geplant, sollte nach dem Giulietta-Akt gespielt werden, als Finale der Traumerzählung von Hoffmann. Bei der Pariser Uraufführung hatte man den Giulietta-Akt ganz gestrichen (angeblich war er zu lang, tatsächlich war er noch nicht aufführungsreif). Kuriosum am Rande: aber auf die Barcarole wollte man nicht verzichten - zu publikumswirksam !, also wurde sie in den Antonia - Akt eingebaut.
- Beim Verlag Peters, Leipzig erschien auf der Basis der Fassung des Pariser Verlags Choudens von 1907 eine deutschsprachige Fassung – die etwas weitläufig formuliert – aus der Fassung Gounsbourough (Monte Carlo 1904) und Choudens besteht. Sie wurde die für den deutschsprachigen Raum die verbindlich-spielbare Fassung; 1944 erarbeiteten Hans Haug und Otto Maag, Basel, eine neue Fassung. 1958 folgte dann die Fassung von Walter Felsenstein, Komische Oper Berlin. Zwischenzeitlich könnte man etwas überspitzt formulieren: so viele Theater ebenso viele Hoffmann-Fassungen. Nicht unerwähnt bleiben darf: zwischen 1933 – 1945 galt Jacques Offenbachs Oeuvre als „entartet“, war verboten, er selbst – der Jude Offenbach - ein Verfemter!
Der Aufbau des Werkes.
- Offenbach hatte mit seinem Librettisten Jules Barbier die Grundstruktur vorgegeben und festgelegt:
- Eine Rahmenhandlung als Klammer für den gesamten Ablauf der Oper, d.i. die reale und die fiktive Erzählebene von Hoffmann, die begleitende Muse/Niklausse sowie Auftritt Lindorf; Stella tritt nur im Schlußbild auf, zu Beginn der Oper wird nur über sie gesprochen.
- Diese Rahmenhandlung, der erste Handlungsstrang (erzählt von Hoffmann) ist das zerbrochene Liebesverhältnis zwischen ihm, Hoffman, dem erfolglosen Dichter und Stella, der gefeierten, erfolgsverwöhnten Primadonna. Nach einem Zerwürfnis sucht Stella das Gespräch und sendet Hoffmann ein Billett mit dem Schlüssel zu ihrer Garderobe; dieses Billett wird abgefangen und erreicht Hoffmann nie.
- Stella, die verlorene Geliebte , bleibt während der ganzen Oper präsent, wenn auch nicht ad personam, sondern in der Aufspaltung in drei andere Frauengestalten, Phantasiefrauen, Improvisationen des Dichters wie des Mannes , der mit und an der Liebe gescheitert ist.
- Stella ist: Olympia, die Puppe-Automat, die Kunstfigur. Antonia, die Sängerin, die an und mit ihrer Begabung und Kunst stirbt. Giulietta, die Kurtisane, die „demi-monde“ (in der Rolle der Giulietta verbirgt sich die einzige zeitkritische Anspielung: Sängerinnen, Schauspielerinnen galten gesellschaftlich als demi-monde, auf deutsch Frauen, die sich aushalten ließen – vgl. dazu Alexandre Dumas jun. La dame aux camélias/Die Kameliendame, besser bekannt durch die Oper von Giuseppe Verdi, La traviata. Das Vorbild der Kameliendame ist die Schauspielerin Marie Duplessis.)
- Der zweite Handlungsstrang ist die Muse in der Maske des Freundes Niklausse und dem Gegenspieler Hoffmanns Lindorf, das Prinzip des Bösen, der „Übermächte“ (Hofmannsthal).
- Die Muse möchte den Dichter nicht an ein allgemeines bürgerliches Leben verlieren, sie kämpft darum ihn seiner eigentlichen Berufung als Künstler zu erhalten, auch wenn ihm der öffentliche Erfolg versagt bleibt. Lindorf verachtet alles Erfolglose, ihn reizt nur der Erfolg – verkörpert durch Stella.
- Die beiden, Muse und Lindorf, werden – unwissentlich zu Verschwörern/Verbündeten, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven: eine Versöhnung Hoffmann und Stella darf nicht stattfinden.
- Der 5. Akt führt diese unterschiedliche Stränge/ Handlungsebenen zusammen: der betrunkene Hoffmann (der Weinkeller als Topos für das „Außer sich sein“, das Heraustreten aus dem Alltäglichen Ich und Welt) nimmt Stella, die erst im 5.Akt als handelnde Person in Erscheinung tritt, nicht wahr; noch weniger ihren Abgang mit Lindorf. Die Muse /der verwandelte Niklausse/ behält den Dichter
- „ Cesse d'être homme Hoffmann!Je t'aime! soit poète!“
- Die Muse, Stella und Lindorf sind die mit Masken handelnden Figuren, ebenso die Diener.
- Muse= Niklausse
- Stella = Olympia, Antonia‚ Giulietta
- Lindorf = Coppelius, Mirakel, Dapertutto
- Andres = Cochenille, Frantz, Pitichinaccio
- Das von Offenbach geplante Maskenspiel funktioniert allerdings nur dann für den Zuschauer/Zuhörer, wenn diese Figuren von einer Person gesungen werden. Offenbach hatte die Frauenpartien zuletzt für eine bestimmte Sängerin (Mlle Adèle Isaac) neu gesetzt; auch die Partie von Hoffmann wurde vom Bariton umgeschrieben für Tenor (Jean-Alexandre Talazac). Theaterpraktis !
- Die genannten Orte sind Fiktion, topoi für , z.B. Venedig für Kunst, Musik, Literatur. Ich gehe noch einen Schritt weiter - mit der Komposition von "Hoffmanns Erzählungen" hat Offenbach mehr als nur eine Oper komponieren wollen um endlich Einlaß in die von ihm so heiß begehrte Opéra Comique (als Theater) zu erhalten; mit dem Fragment hat Offenbach auch sein Credo und sein Testament zur und über die Problematik des Schöpferischen in Musik gesetzt. Die Gratwanderung zwischen Kunst und Wahn, zwischen Erfolg und Scheitern.
- Doch Offenbach wäre nicht Offenbach, wenn er nicht eine ironische Brechung eingebaut hätte: Der Chor der Weingeister, die Geister des Alkohols, der uns enthemmt , berauscht ... – „glou, glou, glou“ – steht für das Unsichtbare, Unsagbare, und aus dem Weinfaß schlüpft die Muse/Niklausse – das Spiel im Spiel kann beginnen.
Wann die ersten Vorgespräche, Vorbereitungen stattgefunden haben, ist nicht belegt. Max Reinhardt schreibt in einem undatierten Briefentwurf (im Teilnachl. in Wien erhalten) an Leo Blech:
- … Hoffmanns Erzählungen zu inszenieren ist schon ein alter Traum von mir. Ich glaube überhaupt, daß die nächste Zukunft eine engere Verbindung von Schauspiel und Musik bringen wird. In der phantastischen Welt des Offenbach‘schen Werkes ist Gelegenheit diese beiden Elemente des Th(eaters) zu gestalten, wenn es gelänge diese Kunst(gattung) einem großen Publikum nahezu bringen so wäre die wesentliche Aufgabe eines Volksstücks erfüllt.
- […] daß die nächste Zukunft eine engere Verbindung von Schauspiel und Musik bringen wird. ...
- "Hoffmanns Erzählungen", Olympia- Akt, Spalanzani stellt der Gesellschaft den Automaten als seine Tochter Olympia vor .
- Berlin, Großes Schauspielhaus 1931
- Mit dem letzten Satz beschreibt Reinhardt den Trend der Zeit, wie auch seinen angestrebten, immer wieder formulierten Anspruch „Wort und Ton“ dem Drama gemäß zusammenzubringen. Reinhardt schreibt nicht expressis verbis von Musiktheater/Oper, Operette; ich spekuliere – vielleicht tendierte Reinhardt doch dahin Musiktheater zu inszenieren?
- Dafür spricht auch ein im Nachlaß Reinhardt überlieferter Brief von Heinz Tietjen (aus dieser Zeit) mit dem Angebot den „Don Giovanni“ an der Staatsoper Unter den Linden zu inszenieren.
- Das oben auszugsweise zitierte Schreiben enthält noch mehr: er geht anfänglich sehr nüchtern auf die alltäglichen Überlegungen zur Regie ein, zur Zusammenarbeit, auf die „Publikumsverführung“ durch gesteigerte Wirkung des Szenischen erzielt wird. Es folgen Bemerkungen zur Gattung Oper, Steigerung der Wirkung durch die Bearbeitung des Textbuchs mit den eingestreuten (neuen) Prosaszenen, in den Nebensätzen verbergen sich Reinhardt’sche Visionen zum Theater.
- Bereits in seinen Anfängen hat sich Reinhardt intensiv mit der Frage nach einem „volkstümlichen“ Theater auseinandergesetzt (daß er später eher für die Elite Theater machte, gehört zu den Widersprüchen seines Theaterlebens) , er schreibt am 4.Dezember 1894 an Berthold Held (ich zitiere nochmals aus diesem Brief):
- ... ich glaube, daß volkstümliche Musikaufführungen dem Zweck der Volksbildung weit eher entsprächen …
- In dem Briefentwurf von 1931 erweitert Reinhardt seine Vorstellung:
- '... In der phan'tastischen Welt des Offenbach‘schen Werkes ist Gelegenheit diese beiden Elemente des Th(eaters) zu gestalten, wenn es gelänge diese Kunst(gattung) einem großen Publikum nahezu bringen, so wäre die wesentliche Aufgabe eines Volksstückes erfüllt. ...
- War es das Fragment des Offenbach’schen Oeuvre, das den Sprechtheaterregisseur Reinhardt, der sich immer wieder zum Musiktheater hingezogen fühlte, das er als Herausforderung der besonderen Art annehmen wollte ? Auch ein Regiebuch gibt es nicht. Die Antwort darauf muß offenbleiben, von Reinhardt gibt es dazu keine, zumindest ist bis heute keine aufgefunden worden.
- Gottfried Reinhardt meint, es wäre das Phantastische, das Groteske gewesen, das eine geheimnisvolle geradezu magische Faszination auf ihn ausgeübt hätte; allerdings in seiner Schilderung läßt er (Gottfried Reinhardt) wohlweislich offen, ob er nun von der Oper, dem Theaterstück, das Offenbach zur Oper angeregt hat oder von den Erzählungen von E.T.A. Hoffmann spricht. Aber konnte der Showman Reinhardt, dem alles, was er in die Hände nahm zum phantastischen Spiel geriet, im Fall von „Hoffmanns Erzählungen“ diesen Spieltrieb zügeln, der Versuchung widerstehen aus dem rätselhaften Torso des Komponisten Offenbach das herauslösen, was sein innerstes Wesen ausmacht ? Das Unbewußte, der Traum, der Albtraum, das Böse , die Gratwanderung zwischen Kunst und Wahn? War es tatsächlich die magische Herausforderung der Grenzüberschreitung zwischen "Kunst und Wahn" oder lockte den Showman Reinhardt das Spiel im Spiel, die Maske, die gestalterische Opulenz, die sich vordergründig förmlich aufdrängt? Vielleicht suchte Max Reinhardt, darin Jacques Offenbach nicht unähnlich, das "Absolute" des Theatralischen ?
- Nicht vergessen werden soll, daß zur Zeit der Inszenierung von "Hoffmanns Erzählungen" die Beliebtheit der Oper vor allem aus der Sangbarkeit der Melodien, der Schauerromantik, der Liebesgeschichten resultierte; von dem heute weit verbreiteten Credo der Werktreue war man noch meilenweit entfernt.
Gusti Adler, die in den Proben neben Max Reinhardt saß, oder die Vorstellungen verfolgte, gab die Probennotate , die kritische Aufführungsanmerkungen an die Darsteller weiter. Sie schreibt über die Inszenierung im „Großen Schauspielhaus“ , S. 278
- Umschlagbild der Klavierbearbeitung aus "Musik für alle"
- Das Motiv für das Notenheft nach Jacques Callot "Balli di Sfessania", Razullo
- … Da war alles: das Romantische, das Hintergründige E.T.A.Hoffmanns – das Unheimliche des Olympia-Aktes, Spalanzani, die Puppen, das Zerbrechen lebendiger Liebe an der Marionette. Venedig, Reinhardts Venedig, das er von Strnad in die Weite des Großen Schauspielhauses zaubern ließ: Kanäle, Brücken, Palazzi, die im warmen Mondlicht aus grünblauem Wasser aufstiegen. Gondeln, Gesang. Und dazwischen das Erlebnis des verlorenen Spiegelbildes, die phantastische Szene vor dem altersblinden, irisierenden großen Spiegel im Palazzo der Giulietta, in unerbittlichen Wiederholungen einstudiert, bis die Illusion vollkommen war. Reinhardt ließ die Spiegelbilder durch Menschen spielen. Das steigerte dann noch das Grauen der Szene, in der es Hoffmann zur Gewißheit wird, daß er sein Spiegelbild verloren hat.
- Nichts aber kam dem Antonia-Akt gleich: musikalisch und darstellerisch. … [darin stimmen auch alle Rezensenten überein, Anm.d.Verf.]
- … Leo Blech dirigierte. In seinen Händen lag auch die heikle Aufgabe der Adaptierung der Musik an die neue Bearbeitung, die von Egon Friedell und Hans Sassmann stammte. …
- … das Geheimnis der Wirkung einer Reinhardt'schen Inszenierung war die Transparenz. Ihm war gegeben, Geschehen von innen heraus zum Leuchten zu bringen. Da war kein Aneinanderreihen von Szenen: Im Ineinanderfließen wuchs und verging der Traum.
- In diesem Zusammenschauen entstand ein Ganzes, das den Zuschauer mit einschloß. Zum Klang kam dann noch Bewegung, Tanz. Das war gerade bei dieser Aufführung, in diesem großen Haus (mit 3000 Plätzen), bei diesem Publikum eine Notwendigkeit. Verbindend rankten sich Tanzszenen zwischen hochdramatischem Geschehen , gewährten Atemholen und kurze Entspannung.
- … Wenn Reinhardt Werke inszenierte, die von Musik getragen waren, verfiel er ihrem Rhythmus vollkommen. Seine Freude daran übertrug sich auf Sänger und Schauspieler, brachte dramatische Steigerungen und führte in Tiefen, die bis dahin unerschlossen geblieben waren. …… „Alles auf Noten“ gesetzt, von der bekannten Musik getragen, aber unendlich bereichert, durchleuchtet. ...
- Gusti Adler beschreibt den Olympia-Akt sehr präzise: die Koloraturarie der Puppe Olympia endet lt. szenischer Anweisung im Textbuch/Klavierauszug mit dem Zerbrechen der Puppe in den Armen Hoffmanns. Reinhardt jagt die Sängerin richtiggehend über die Bühne, bis sie zerbricht (gedoubelt von einer Tänzerin). In der Offenbach-Version singt und tanzt sie sich (wie rasend) um sich selbst, bis sie zerbricht, keiner ihrer "Schöpfer" kann den rasenden Tanz stoppen. Die Koloraturen sind Stilmittel, sie unterstreichen: hier produziert ein Automat Töne.
- Dazu aus Alexander Faris, Jacques Offenbach , S. 227
- … Koloraturgesang ist so offensichtlich eine Zurschaustellung von vokaler Technik, daß er bei wahlloser Anwendung dramatisch bedeutungslos wird und keine andere andere Aussage vermittelt als die Fähigkeit der Sängerin[des Sängers, Anm.d.Verf.] seinen Anforderungen zu genügen. … Koloratur [ist] ein Mittel um eine Gestalt zu enthumanisieren; die Königin der Nacht ist böse, Lucia di Lammermoor ist wahnsinnig, Olympia ist ein Automat. …
- Gottfried Reinhardt schreibt, daß Reinhardt auf sängerische Bedürfnisse oder Anforderungen keinerlei Rücksicht nahm; worauf die Beschreibung der Szene (durch Gusti Adler) teilweise zutrifft (immerhin wird gedoubelt). Musik als Klangrede (um ins 21.Jahrhundert zurückzukehren) wurde zu Lebzeiten Reinhardts noch nicht in diesem Sinn verstanden. Entweder gab es Oper (verkürzt formuliert Konzert im Kostüm. Der Weg zum Musiktheater nach heutigem Verständnis stand erst am Beginn. Experimente wie die Krolloper wurden nur von einem geringen Teil des Publikums verstanden und auch angenommen. Aus meiner Sicht steht Reinhardt mit seinen Musiktheaterinszenierungen zwischen den Zeilen.
- Reinhardt ließ das Offenbach'sche Fragment – wie es damals einfach gängige Theaterpraxis war – bearbeiten- textlich wurde es ergänzt, erweitert, umgeformt – und dafür war musikalische Bearbeitung nötig: Leo Blech, der die musikalische Leitung und die Bearbeitung übernommen hatte, schreibt im Programmbuch:
- … wie soll bearbeitet werden ? … Ich hatte immer das Gefühl , daß dieses Werk szenisch noch nicht ausgeschöpft wurde – ausgeschöpft mit den Mitteln der heutigen Bühnenmöglichkeiten und durch die treibende Kraft einer reich und neu gestaltenden Phantasie … ('''Offenbach, Anm.d.Verf.) ... so wie das Werk vorlag, hätte er es nicht den Bühnen übergeben.
- Was hat' allein' die Rahmenhandlung nicht alles mit sich durchmachen müssen! Mahler strich sie bei seiner Aufführung des Werkes völlig weg und ließ nur … die Erzählungen. ..
- Ich griff nur da ein, wo Reinhardt für seine Bühnenvisionen keine oder nicht genügend auswertbare Musik vorfand . … Ich mußte feststellen, daß Reinhardt mit geradezu hellseherischem Instinkt immer gerade da einhakte, wo die vorhandene Musik seltsam unausgiebig war. …
- Leo Blech, Ob überhaupt und wenn ja, wie!, Programmbuch zu Hoffmanns Erzählungen, S. 116 ff.
- Schlußwort
Nachdem ich nun akribisch viel zusammengetragen habe zur Inszenierungsarbeit Reinhardts an verschiedenen Werken Offenbachs, wird der Leser fragen: und was folgt daraus ? – zu wenig um bahnbrechend für die Entwicklung des Musiktheaters wird die Theaterwissenschaft erklären, zu wenig biographisch werden mir die Biographen entgegenhalten, die sozio-politische Tätigen werden spitzzüngig anmerken: Elitetheater!
Nichts und alles trifft zu. Offenbach zieht sich wie ein versteckter Ariadne-Faden durch das Bühnenleben von Max Reinhardt.
Es beginnt mit dem Merkur in „Orpheus in der Unterwelt“ 1893 auf der Vorstadtbühne in Rudolfsheim; möglich daß Reinhardt auch dort erfahren und erlebt hat, wie „Volkstheater“ – Vorstadttheater funktioniert(vgl. dazu den Brief an Berthold Held vom 4.12.1894); das Publikum in Rudolfsheim waren Arbeiter, Handwerker, kleine Beamte, kleine Händler., vielleicht gelegentlich der eine oder andere aus der Mittelschicht.
Vielleicht nur als kurzer Hinweis: die Wiener Vorstadtbühnen (die bis zur Schleifung der Befestigungsanlagen 1857 vor der Stadt lagen), hatten allgemein großen Zulauf , nicht nur aus der Vorstadt; mit der Stadterweiterung veränderte sich die Publikumsstruktur, es gab in der Folge mehr Vorstadtbühnen, häufig auch in sogenannten Vergnügungsparks, wie eben beim " Schwender ".
1901:
Schall und Rauch spielt als Nachtvorstellung Offenbach, „Hanni weint und Hansi lacht“ (Jeanne qui pleure et Jean qui rit), Operette (opérette bezeichnet im französischen kleine Oper, Singspiel!). Das kleine einaktige Spiel um zwei Verliebte, die sich am Ende doch noch kriegen, hatte Offenbach für das Kurtheater in Bad Ems 1864 komponiert. In Wien stand es zuletzt langjährig auf dem Spielplan des Carltheaters (Noten – und Textmaterial sind erhalten geblieben). 1901 hatte Reinhardt mit seinem Ensemble im Carltheater gastiert. Und um diesen kleinen historischen Rückblick abzuschließen: Offenbach wurde in Wien schon zu seinen Lebzeiten viel gespielt, es gab eine Offenbach-Tradition, die nicht zuletzt mit Karl Kraus einen einsamen Höhepunkt erlebte.
Und immer wieder - der Ariadne-Faden : Offenbach - Orpheus, Helena, Hoffmann – nicht realisiert Pariser Leben und die Banditen (Les Brigands) . „Die schöne Helena“ –in der Verkleidung „Helen goes to Troye“ im Alvin Theatre, New York, bleibt als Inszenierungsfragment zurück. Reinhardt stirbt am 31.Oktober 1943. Die Premiere der Produktion , von Herbert Graf realisiert, findet am 24. April 1944 statt.
Mehr Fragen als Resultate sind geblieben; die Überlieferung des Spielmaterials ist sehr lückenhaft, es fehlt vor allem das musikalische Material um einen umfassenderen Einblick in die Arbeit von Max Reinhardt, in seiner Vorstellung „Volksstücke mit Musik“ (Brief an Berthold Held, 1894) zu finden. Doch schon die Bruchstücke lassen erkennen, daß Reinhardt ein etwas widersprüchliches Verhältnis zur Musiksprache und ihren Erfordernissen hatte. Er gebrauchte Musik als dramaturgisches Movens, und – ohne Kenntnis der musikalischen Materialien (die „Fledermaus“ ist als Klavierauszug zu wenig aussagekräftig) und möglicher Regieunterlagen bleiben nur Berichte, Rezensionen und Photographien. Die Photographien der Zeit sind – dem technischen Standard entsprechen statuarisch, oft auch nachgestellt … erzählen zu wenig über szenische Abläufe. Akustisches Material – Plattenaufzeichnungen – bis auf das „Traumduett“ (Ausschnitt) aus der „Schönen Helena“ von 1932 – reichlich sparsam.
Es war dennoch eine spannende Spurensuche in die Welt Max Reinhardt und Jacques Offenbach gesehen und gehört mit den Augen und Ohren des Regisseurs …
Man wird mir nun entgegenhalten Reinhardt, Theatermann als Geschäftsmann, suchte und erfolgsträchtiges, gewinnbringendes Spielmaterial. Das ist zutreffend , aber nur eine Seite der Medaille – das Resultat seiner künstlerischen Visionen, wenn man es poetisch formulieren wollte – und seine Vorliebe für Offenbach, die vielleicht auch eine „unglückliche“ Liebe war, ist Beweis genug dafür. Warum ich von „unglücklich“ spreche? Es muß einen Zeitpunkt gegeben haben, da glaubte Reinhardt wohl nicht mehr an Text und Musik als Einheit wie von Offenbach komponiert, sondern griff vehement in die Dramaturgie, in die Struktur der Werke ein; das trifft allerdings nicht nur auf Offenbach zu.
Bleibt immer noch die offene Frage, was hat die Offenbach’schen Werke für Reinhardt so faszinierend gemacht? – denn nichts ist – Binsenweisheit – schwerer zu inszenieren als die sogenannte „leichte Muse“. – Sie ist nicht Oper, verlangt aber – wie das Genre Oper als Musiktheater – absolute musikalische Perfektion mit leichter Hand.
Schauspieler gestalten ihre Figuren, aber – mit den Mitteln der Sprache des Sprechens und nicht mit dem Element der musikalischen Sprache. Waren die Inszenierungen also nichts anderes als ein Experiment, ein Versuch sich dem Musiktheater auf diese Weise zu nähern? - Musiktheater als „Volkstheater“?
1943 entwirft Max Reinhardt einen Brief für den Drehbuchautor Ben Hecht; er erzählt von seinem Plan zu einer amerikanisierten „Schönen Helena“. Er beschreibt seine große Faszination, die das Offenbach‘sche Oeuvre auf ihn ausübt; allerdings geht seine Phantasie ganz andere Wege. Die Reinhardt‘sche Vorstellung einer theatralischen Präsentation der „Belle Hélène“ von Jacques Offenbach als Einheit von Wort und Ton als satirisch-ironisches Spiel komponiert, entfesselt eine Kettenreaktion von Überarbeitungsmechanismen, und endet in der Vision einer -sehr puritanischen - Neufassung des Spiels um Sex und Liebe .
Reinhardt bekennt
... daß in ... dem französischen Original, die Musik einen großen, der Dialog einen viel zu kleinen Spielraum hatte ...
Der Theatermann Reinhardt, der Regisseur Reinhardt fühlt sich von der Musik Offenbachs „ entmachtet “?
Das Ende des Nachworts ist mein Danke an alle, die mir mit Material, Informationen und Korrekturen geholfen habe, dieses komplexe Thema (weil nur sehr lückenhaft belegbar) wenigstens als Spurensuche zu beschreiben.
Dagmar Saval
Wien im November 2020